Auftakt.
Babel als Denkfigur für ein Leben jenseits klarer Ordnungen
»Menschen müssen lange Zeit viel Wasser trinken, da dies wichtig ist.« So lautet das Ergebnis eines Sprachexperiments mit Mainzer Theologiestudierenden. Diese sollten spontan und in einem Satz die Kernbotschaft der Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9) notieren. Sie sollten dabei weder analysieren noch nacherzählen, sondern einfach ihre persönliche theologische Einsicht formulieren.
Es folgte das eigentliche Experiment: eine Übersetzungskette. Die Ausgangssätze wurden mit einer Übersetzer-App Schritt für Schritt in mehrere Sprachen übertragen: von Deutsch nach Bosnisch, dann weiter über Estnisch, Griechisch und Igbo zurück ins Deutsche. Tatsächlich waren dies alles Sprachen, mit denen die Gruppe schon einmal in Kontakt gekommen war. Nach vier Stationen stand jener Satz da, dessen Bezug zur Babel-Erzählung kaum mehr zu rekonstruieren sein dürfte.
Sprachverwirrung durch Bedeutungsverschiebungen
Die Übersetzungskette veranschaulicht auf einfache Weise, was in der Translationswissenschaft als semantic oder translational shift bezeichnet wird. Gemeint sind Bedeutungsverschiebungen, die bei Übersetzungen zwangsläufig auftreten, gerade auch dann, wenn KI-Sprachmodelle beteiligt sind. Dass diese Verschiebungen vor allem bei mehreren aufeinanderfolgenden Übersetzungen entstehen, macht der Spielklassiker »Stille Post« erlebbar. So ist das hier vorgestellte Experiment auch von diesem Spiel inspiriert, ähnlich wie es Alexander-Kenneth Nagel in seinem Beitrag zu diesem Heft vorschlägt.
Beide Beispiele mit oder ohne KI zeigen: Kommunikation ist störungsanfällig – nicht nur, aber besonders unter komplexen sprachlichen Bedingungen. Manchmal lässt sich darüber lachen, manchmal führt es zu Verwirrung. Häufig jedoch werden kommunikative Brüche zum Ausgangspunkt für Missverständnisse, Irritationen oder auch für ernste Konflikte. Womit wir beim Thema dieses Heftes wären.
Babel: Sprache zwischen Geschenk und Bürde
Die biblische Erzählung vom Turmbau wird oft als Episode über menschliche Hybris gelesen, an deren Ende die vielen Sprachen stehen. So lautete auch eine typische Formulierung der Studierenden: »Der Mensch soll sich nicht zum Gott erhöhen.« Eine Aussage übrigens, die das Übersetzungsexperiment mit einem bemerkenswerten Perspektivenwechsel überstanden hat: »Die Menschen sollten nicht über die Grenzen Gottes hinausgehen.«
Doch ob man nun das menschliche Aufwärtsstreben oder die von Gott gesetzten Grenzen betont, ein Blick in den Text der Urgeschichte zeigt: Ganz so eindeutig ist die Lage nicht. Wie Egbert Ballhorn in seinem Beitrag aufzeigt – und wie Paula Schöttke sowie Eva Stögbauer-Elsner und Michaela Gilhuber didaktisch aufgreifen –, ist in Gen 11,1–9 weder von Sünde noch ausdrücklich von Strafe die Rede. Der Turm stürzt auch nicht in einer großen Katastrophe in sich zusammen oder wird aktiv zerstört. Die Baustelle bleibt einfach stehen, weil sich die Leute nicht mehr verständigen können.
Damit wird von einem Eingreifen Gottes erzählt, das die anfangs einheitliche Sprache in eine Vielfalt umwandelt und damit das Entstehen eines totalitären Projekts unterbricht: eine riesige Stadt, ein himmelhoher Turm, ein großer Name, eine Sprache für alle – eine eindeutige Ordnung.
In ihrer urgeschichtlichen Situierung erzählt die Geschichte des Turmbaus damit nicht zuerst ein Ende, sondern einen Neuanfang. Dieser beruht auf dem »Geschenk« verwirrend vielfältiger Sprachwirklichkeiten als Bedingung und Grenze menschlichen Zusammenlebens. Es ist nicht eine Geschichte des Scheiterns, sondern der Befreiung: von der Vorstellung, dass Verständigung über Einheitlichkeit und Uniformierung gelingen könnte.
Babel: Selbst eine vielstimmige Chiffre
Dass Babel nicht nur theologisch, sondern auch kulturell ein Resonanzraum war und ist, zeigt ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Motivs »Babel«. Die Erzählung vom Turmbau bildet hier nur einen Ausgangspunkt. Bereits innerhalb der biblischen Tradition verbindet und vermischt sich das mythische »Babel« mit dem historischen Babylon – jener Großmacht, die über Jahrhunderte hinweg die Geschichte und das Schicksal des im Vergleich winzigen, politisch relativ wehrlosen Volkes Israel maßgeblich prägte, wenn nicht diktierte (Renz). In einer Überlagerung von historischen Erfahrungen, literarischer Gestaltung und theologischer Deutung entstand eine Chiffre, die vielfältige Bedeutungen aufnehmen kann: Zentrum einer rücksichtslosen Großmacht, Ort des Hochmuts und der Gewalt, Erfahrung des Exils, aber auch des Widerstands und der Wandlung. Babel wurde zur Projektionsfläche als ein Ort der Entfremdung, an dem Glauben neu formuliert werden muss. Auf diesen Ort wurden im Laufe der Zeit auch die Erfahrungen projiziert, die mit anderen Städten und Reichen gemacht wurden: von Assur, dessen Vereinheitlichungsansprüche in der Turmbauperikope parodiert werden, bis hin zu Rom (Sals 79 f.).
Kurioserweise, so schreibt Ulrike Sals, erreichten die biblischen Schriftsteller on the long run gerade das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigten: »Um Babylon böse und damit Gott möglichst gut zu zeichnen, wird Babylon überzeichnet und so besonders mächtig, numinos und weiblich. Es wurde zu einem konstruktiven Teil der jüdisch-christlichen Tradition, fand Eingang ins kulturelle Gedächtnis – und wurde so unzerstörbar« (Sals 82). Berenike Jochim-Buhl und Harald Kegler zeichnen in ihren Beiträgen nach, wie insbesondere weibliche Metaphern und die Gegenüberstellung mit der Stadt-Frau Jerusalem diesen Prozess prägten bzw. wie sich die biblisch inspirierten Gedankenwelten in mittelalterlichen Stadtbildern manifestierten.
Obwohl längst untergegangen, lebt Babel/Babylon als Chiffre umso stärker weiter; in Kunst, Literatur, Film und Popkultur, als Ort des Scheiterns und der Maßlosigkeit, aber auch als Bühne für Magie, Erotik, Verfall und die Sehnsucht – nach Ordnung. Martin Ostermann und Christopher Schmidt spüren dieser Existenz Babels im Film und Comic nach. Die eigens für dieses Heft geschaffene Bildserie der Künstler*innen Alina Röbke und Philipp Neßler geht noch einen Schritt weiter und erkundet mithilfe von bildgenerativer KI die ästhetische und theologische Imaginationskraft des Babel-Motivs. Die Bilder lassen Babel als eine Art visuelle Denkfigur erscheinen: mehrdeutig, irritierend, anziehend und fremd zugleich.
Die Vielschichtigkeit des Babel-Motivs macht es zudem anfällig für ideologische Vereinnahmungen. Jan-Hendrik Herbst zeigt in seinem Beitrag, wie in politischen Diskursen der sogenannten Neuen Rechten Babel zur Negativfolie einer multikulturellen Gesellschaft und zum Symbol kulturellen Zerfalls wird. Hier dient die Erzählung nicht mehr der Erkundung menschlicher Begrenztheit, sondern der Stabilisierung identitärer Ordnungsfantasien.
Religiöses Lernen im Zeichen der Vielstimmigkeit
Was heißt es von daher, Babel religionspädagogisch ernst zu nehmen? Sicher nicht, sich allein auf die Turmbauerzählung zu fokussieren und diese auf ein Lehrstück über menschlichen Hochmut oder gar die Entstehung der Sprachen zu reduzieren!
Die Beiträge dieses Heftes laden vielmehr dazu ein, Babel als Ausgangspunkt für ebenso vielfältige wie kritische Bildungsprozesse zu begreifen, sowohl in Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition als auch auf den Spuren der Chiffre bis in die Gegenwart hinein. Wie religiöses Lernen und Leben schließlich zwischen sprachlicher Identität und kontextueller Vielsprachigkeit Gestalt gewinnen können, zeigen Yauheniya Danilovich und Philipp Müller mit ihren Beiträgen zur orthodoxen religiösen Bildung und zur Praxis muttersprachlicher Gemeinden. Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit verlieren hier den Stempel eines »Problems« und werden zu Ausgangspunkten, von denen aus Neues entstehen kann.
Am Anfang: die Suppe
Zum Schluss bleibt noch die Frage offen, was eigentlich am Anfang stand – also vor dem Satz: »Menschen müssen lange Zeit viel Wasser trinken, da dies wichtig ist.« Die Originalformulierung lautete: »Die Menschen dürfen nicht alle zu lange im gleichen Süppchen schwimmen.« Ein bildhafter Gedanke, durchaus mit theologischem Tiefgang: gegen Unveränderlichkeit, für Bewegung und Vielfalt. Nur leider hat sich dieses »Süppchen« in der Übersetzungskette so weit verflüchtigt, dass am Ende nur noch Wasser übrig blieb.
Der Soziologe Armin Nassehi bezeichnet solche Phänomene kommunikativer Brüche als zentrales Merkmal gegenwärtiger Gesellschaften, die in kaum einem Thema mehr eine einheitliche Sprache sprechen. Vor diesem Hintergrund sei Kommunikation längst nicht mehr eine lineare Informationsweitergabe, sondern ein ständiges Übersetzen zwischen unterschiedlichen Kontexten und Logiken. Daher gehe es, so Nassehi, heute zentral um das »Management von Unterbrechungen« (Nassehi 199), also nicht darum, sich auf eine gemeinsame Sprechweise zu einigen, sondern Kommunikation nicht abreißen zu lassen.
Das lässt sich auch religionspädagogisch ernst nehmen: Vielleicht ist es an der Zeit, die Idee einer einheitlichen, durchgehenden Verständigung loszulassen zugunsten eines Lernens, das Unterbrechungen nicht als Störung, sondern als Lernanlass erkennt. Babel, so gelesen, erzählt dann nicht vom Ende der Verständigung, sondern davon, dass es immer schon vor allem darum ging, Kommunikation nicht abreißen zu lassen, auch wenn man sich nicht (mehr) zu verstehen scheint.
Dr. Stefan Altmeyer ist Professor für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz.
Lukas Ricken ist Lehrer für die Fächer Deutsch und Katholische Religionslehre an der Joseph-Beuys-Gesamtschule in Düsseldorf.
Beide sind Mitglieder im Beirat der Katechetischen Blätter.
Literatur
Nassehi, Armin, Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft, Hamburg 2017.
Renz, Johannes, Baylonien/Babylonier, in: WiBiLex (2009), https://bibelwissenschaft.de/stichwort/14369/ (letzter Zugriff: 20.05.2025).
Sals, Ulrike, Feder gegen Schwerter – Babylon als materiale und theologische Größe, in: BiKi 80 (2025) 2, 78–83.