Auftakt.

Peter Scheuchenpflug

Die Wissenschaft liebt Räume – Mit Folgen für die Praxis?

Die kirchliche Sozialgestalt verändert sich dramatisch und damit die Kontexte religiöser Bildung. Vielleicht hilft ein Perspektivenwechsel: Raumorientierte Konzepte laden ein, gesellschaftliche Wirklichkeit und christliche Praxis anders wahrzunehmen.

Es war einmal vor mehr als 30 Jahren, da wurde von der Soziologie ein »spatial turn« ausgerufen: Mit der Kategorie des Raumes sollte ein Paradigmenwechsel erfolgen, die gesamte Wirklichkeit sollte mit einer veränderten Wahrnehmungskategorie unter die Lupe genommen und neu beschrieben werden. Was nun einsetzte, war eine typische Dynamik im Wissenschaftsbetrieb, erhofften sich doch die einzelnen Disziplinen der Kultur- und Sozialwissenschaften, und ebenso die Theologie, sich neue Projekte sowie – materialistisch gedacht – den Zugang zu Forschungsgeldern erschließen zu können, um dann in ihren nach Disziplinen parzellierten Claims erfolgreich nach neuen Erkenntnissen zu schürfen. Und wenn diese Forschungsfelder nicht bereits ausgebeutet sind, dann forschen sie noch heute …

Was bringt eine soziologische Raumtheorie für religiöse Bildung?

Im Ergebnis wimmelt es nun im Wissenschaftsbetrieb von unterschiedlichen Begriffen und Definitionen von »Raum« bzw. »Räumen«. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Grundelemente eines häufig verwendeten Modells, das von der Soziologin Martina Löw entwickelt wurde. Ausgangspunkt des spatial turn war, dass traditionelle Raumkonzepte, die von geografischen Orten ausgingen, um dann die an ihnen stattfindenden Vergemeinschaftungen von Menschen zu beschreiben, nur noch einen Teil der sozialen Wirklichkeit erfassen konnten. Denn viele soziale Räume formieren sich heute in einem ›ortlosen‹ Kontext, nämlich im Rahmen digitaler Kommunikationsprozesse. Deshalb versucht man die gegenwärtige Gesellschaft auf der Basis einer Perspektive der Räume zu beschreiben und von dort aus auf die Orte zu blicken.

Im Hinblick auf religiöse Bildung kann die traditionelle – auch als Container-Denken bezeichnete – Wahrnehmung schablonenhaft so beschrieben werden: Bestimmte Orte sind für religiöse Bildung in einer je besonderen Weise vorgesehen: Die öffentliche Schule bietet Raum für den Religionsunterricht, ein Pfarrzentrum für Katechese und Erwachsenenbildung. Raumorientierte Theorien zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass sie Räume als Produkt der Interaktionen von Menschen (Schroer 354) verstehen und dann erst nach dem Verhältnis zum jeweiligen geografischen Ort fragen. Der Fokus der Wahrnehmung von gesellschaftlicher Wirklichkeit liegt auf den Individuen, denn relationale Räume werden aktiv von den einzelnen Akteur*innen hervorgebracht und mit einer Struktur versehen. Löw beschreibt Raum als »eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten« (Löw 214). Er wird erzeugt durch »zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung« (Löw 271). Seine besondere Struktur erhält ein Raum durch eine konkrete Platzierung bzw. Anordnung von Gegenständen oder durch die Verteilung von sozialen Rollen (spacing). Mit diesem gestalteten Raum nehmen die einzelnen Akteur*innen dann eine Beziehung über gezielte Wahrnehmungsprozesse auf (Syntheseleistung) (vgl. Löw 158f.; 224). Auf diese Weise kann der Raum eine bestimmte (symbolische) Wirkung, wie z. B. religiöse Bildung, entfalten.

BILDSERIE 1: 3D-Drucker-Firma (Johannes, 5. Klasse)

Ein grundsätzlicher Gewinn kann schon dadurch entstehen, dass man diese Raumperspektive probehalber anlegt, um traditionelle Wahrnehmungsmuster aus einer anderen, charmanten, überraschenden Perspektive zu hinterfragen. Ob sich daraus konkrete Handlungsimpulse für unterschiedliche Orte religiöser Bildung ergeben, bleibt einer detaillierteren Analyse überlassen (vgl. die Beiträge in diesem Heft sowie Scheuchenpflug 2025). Ebenso müsste aufgrund der hohen Bedeutung der Akteur*innen bei der Raumgestaltung die Frage eingehender erläutert werden, ob es nicht ein Bildungsziel im Religionsunterricht sein müsste, Schüler*innen mit einem Kompetenzbündel auszustatten, das ihnen erlaubt, Räume religiöser Praxis präziser zu identifizieren und im Bedarfsfall selber einrichten und gestalten zu können.

Die folgenden Überlegungen schlagen anhand konkreter Beispiele ein paar Wahrnehmungspfade ein, und zwar entlang der drei Raumbildungselemente Syntheseleistung, Spacing und Frage nach dem spezifischen Ort. Grundsätzlich gilt, dass im Prinzip jeder Raum über die entsprechende Syntheseleistung und/oder das Spacing der Akteur*innen zu einem Raum religiöser Praxis oder religiöser Bildung werden kann! Allerdings darf auch die Wirksamkeit von bleibenden räumlichen Arrangements an bestimmten Orten, die im Rahmen von spacing-Prozessen entstanden sind, nicht unterschätzt werden (vgl. Schroer 175).

Wie sich Orte durch Syntheseleistung oder Spacing verändern

Institutionalisierte Orte (Schulen, Museen, Kirchengebäude, Sportarenen, …) schlagen mit ihrer räumlichen Struktur jeweils eine ganz bestimmte Raumnutzung vor; diese kann aber über eine entsprechende Syntheseleistung der Akteur*innen fundamental verändert werden: So wurde beim Katholikentag 2014 in Regensburg das Sportstadion der Universität vorübergehend zu einem Raum für die Feier des Schlussgottesdienstes umgestaltet; Kirchenräume sind für liturgische Praxis eingerichtet, dienen aber auch als Räume religiöser Bildung, z. B. im Rahmen einer Touristenführung.

Der Religionsunterricht wäre in einer raumorientierten Perspektive zu beschreiben als Raum mit der verordneten Syntheseleistung »religiöses Lernen in konfessioneller Ausprägung« an einem Ort, der über sein Spacing bereits klar als Ort des Aneignens von Bildung ausgewiesen ist: Das Klassenzimmer verwandelt sich in einem temporären Spacingprozess im Rahmen des Religionsunterrichts zwar flott in einen Raum religiösen Lernens, wenn ein Sitzkreis errichtet, ein Bodenbild gelegt und die berühmte Jesuskerze darauf platziert wird – spätestens nach 45 Minuten mutiert er ebenso schnell zurück und wird dann zu einem Raum schweißtreibender mathematischer Operationen. An manchen Schulen wird es ermöglicht, dass ein Unterrichtsraum über ein permanentes Spacing zu einem ›Religionszimmer‹ umgewidmet wird; dieses ist dann über seine eigene, mitunter eigenartige Ästhetik (Fensterbilder, Jesus-Poster, Collagen zu ethischen Themen, Heiligenporträts usw.) meist eindeutig identifizierbar.

Mit der Raumperspektive schärft sich also der Blick für Räumlichkeiten und ihre ästhetische Gestaltung sowie für den Drang der jeweiligen Akteur*innen, Räumlichkeiten via spacing mit ihren eigenen ästhetischen Mitteln zu gestalten. Im Hinblick auf den Religionsunterricht entsteht die spannende Frage, wie sich die (vorproduzierte) Ästhetik religiöser Materialien zur Ästhetik der Kinder und Jugendlichen verhält, welche Qualität den ästhetischen Artikulationen bescheinigt werden kann und wie das soziale Gut der ästhetischen Gestaltung in Räumen religiösen Lernens von den Akteur*innen ausgehandelt wird.

Wie Leitbilder (Syntheseleistungen) die Wahrnehmung von Räumen steuern

Aus der Raumperspektive kann christliche Gemeinde als Konglomerat an Räumen liturgischer, katechetischer und diakonischer Praxis beschrieben werden, welche an einem bestimmten Ort angesiedelt sind. Viele dieser Räume werden von hauptamtlichem pastoralen Personal geleitet oder begleitet. Nun wurde in der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils programmatisch festgehalten: Die Liturgie (d. h. ein Raum, in dem liturgische Praxis ausgeübt wird) ist »der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt« (SC 10). Wie aber schaut es mit diesem besonders markierten Raum christlicher Praxis auf Gemeindeebene aus? In einer raumorientierten Perspektive muss man nüchtern feststellen, dass im Zuge der verordneten Vergrößerung pastoraler Räume aufgrund des zurückgehenden priesterlichen Personals viele vitale Räume liturgischer Praxis in den letzten Jahren einfach vernichtet wurden. Hätten die Verantwortlichen dieser Strukturveränderung dagegen die Erhaltung der »Höhepunkte kirchlichen Tuns«, d. h. der Räume liturgischer Praxis, priorisiert, dann hätte man rechtzeitig andere Akteur*innen befähigen müssen, diese Räume liturgischer Praxis (in modifizierter Form, d. h. als Wortgottesdienst) vor Ort aufrechtzuerhalten.

Ein weiteres Leitbild, das die Wahrnehmung von christlicher Praxis steuert, ist die populäre Einteilung in die sog. Kerngemeinde auf der einen und die »Fernstehenden«, Distanzierten auf der anderen Seite. Zur Kerngemeinde werden all jene, die regelmäßig die sonntägliche Eucharistiefeier mitfeiern und Aufgaben in der Gemeinde übernehmen, gezählt. Geht man dagegen von einem relationalen Raummodell aus, demgemäß immer dann, wenn Menschen im Namen Jesu beisammen sind, »Gemeinde im weitesten Sinne« konstituiert wird, ändert sich der Blick auf die sog. Kerngemeinde. Wenn sich bei der Feier eines Requiems, d. h. anlassbezogen, Christ*innen zusammenfinden, dann bildet sich im Rahmen dieses Feier-Raums eine »echte« Kerngemeinde auf Zeit. »Lebendige Gemeinde« entsteht also immer dann an einem Ort, wenn solche räumlichen »Ver-Kern-ungen« stattfinden (Scheuchenpflug 2025, 94). Weitet man diese Erkenntnis auf andere Räume christlicher Praxis aus, dann ergibt sich ein anderes Bild der Sozialgestalt des Christentums in der gegenwärtigen Gesellschaft, als wenn man diese nur über die institutionellen Orte erhebt.

Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Syntheseleistung

In der religionssoziologischen und damit einhergehenden pastoraltheologischen Diskussion ist in den vergangenen Jahrzehnten viel darüber gerätselt worden, ob im Lauf des Modernisierungsprozesses religiöse Praxis in der Gesellschaft zu einem Nischenphänomen verkümmert oder ob sie aus den Religionssystemen auswandert und sich modifiziert in anderen Vergesellschaftungsformen ansiedelt, z. B. bei Massenevents. Hier hilft eine Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Syntheseleistung weiter. Während bspw. die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer*innen an den Events der Profifußballwelt mit der Syntheseleistung der willkommenen Freizeitbeschäftigung diese hochemotional besetzten Räume aufsucht, ist es durchaus möglich, dass Einzelne diese Erlebniswelt mit ihrer Syntheseleistung religiös ›aufladen‹. Angesichts der großen Teilnehmerzahlen kann es deshalb Sinn machen, an solchen Event-Orten auch Räume christlicher Praxis anzusiedeln. So waren beim Wiener Donauinselfest (21.–23. Juni 2024) 40 Seelsorger*innen im Einsatz, die 800 seelsorgliche Gespräche führen konnten. Umgekehrt können säkulare Massenevents offiziell mit einer kollektiven Syntheseleistung religiöser Praxis versehen werden, wie z. B. bei der Regensburger Dackelparade am 22.09.2024, wo bei der Endstation am Domplatz eine Tiersegnung stattfand. Wie viele der Besitzer*innen der 1175 Dackel dann tatsächlich diesen Akt als Raum ihrer eigenen religiösen Praxis genutzt haben, kann nur vermutet werden …

Fazit: Just do it!

Raumorientierung bietet Gelegenheiten für eine Erkundung von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Dadurch können neue Perspektiven für eine modifizierte Praxis generiert werden. Dies gilt sowohl für Räume religiöser Praxis im Allgemeinen wie für das Bemühen um Räume religiöser Bildung im Besonderen. Man muss es nur ausprobieren …

Prof. Dr. Peter Scheuchenpflug ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Regensburg.

Literatur

Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001.

Scheuchenpflug, Peter, Wenn Christen vor Ort Gemeinde bilden. Grundlagen einer raumorientierten Pastoral, Regensburg 2025.

Schroer, Markus, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2006.