Auftakt.

Daniela Brodesser

Über Armut wisst ihr nichts

Armut erschwert Schule. Die in der Schule oder im Dienst der Kirche arbeiten, haben zumeist keine eigenen Armutserfahrungen. Wie leben, was erleben armutsbetroffene Kinder und ihre Eltern mit Blick auf den Schulalltag? Darüber berichtet Daniela Brodesser eindringlich in ihrem Buch »Armut«.

Wenn ich gefragt werde, was das Leben in Armut mit der Familie macht, fällt mir als Erstes ein: Die Kinder äußern keine Wünsche mehr. Sie haben gelernt, dass Wünsche, wie sie ihre Klassenkolleg*innen haben, nicht erfüllbar sind. Sie haben gelernt, ihre Wünsche zu reduzieren, weil sie wissen, dass die Eltern alles versuchen würden, um sie zu erfüllen, nur um sich dann schlecht zu fühlen, weil es eben nicht möglich ist. Manche armutsbetroffenen Kinder meiden Montage in der Schule, indem sie zum Beispiel Bauchschmerzen bekommen. Nicht weil sie sie vortäuschen. Die Schmerzen sind tatsächlich vorhanden, aus Angst, sich von den Mitschüler*innen beschämen lassen zu müssen. Weil es der Tag mit der berühmten Morgenrunde ist und den Fragen danach, was man am Wochenende unternommen hat. Und wenn man immer nur das Gleiche erzählen kann, vom Waldspaziergang und eventuell einem Spiel zu Hause mit der Familie, wird man irgendwann ausgelacht. Es kommt natürlich darauf an, in welchem Umfeld man lebt. Ist Armut dort verbreitet, stellt das weniger ein Problem dar, lebt man aber in einem eher wohlhabenden Umfeld, kommen früher oder später die ersten Bemerkungen. Und sogar Anrufe von den Pädagog*innen: »Wie kannst du nur! Du musst doch mehr mit deinen Kindern unternehmen und nicht nur zu Hause herumsitzen!« Ja, auch das passiert. Mit viel Glück stößt man auf verständnisvolle Lehrkräfte, mit weniger Glück kann sogar mit dem Jugendamt gedroht werden.

Es passiert leider noch immer viel zu oft, dass Armut mit mangelnder Erziehungsfähigkeit verwechselt wird. Wer arm ist, muss doch ein Manko haben, oder? Ausflüge und Werkbeiträge sind ein Thema, das Betroffene das ganze Jahr hindurch begleitet. Hier sind wir bereits an dem Punkt, an dem Bildung nicht mehr für alle gleich ist. Nicht weil Kinder aus finanziell benachteiligten Familien keinen Unterricht bekommen, sondern weil sie sehr früh lernen, dass gewisse Kosten in ihrer Familie ein Problem sind und Stress verursachen. Weil sie lernen, dass Schule eben nicht kostenlos ist. Weil sie sehen, wie ungleich es sich verhält. Während für Klassenkolleg*innen Geld kein Thema ist, bedeutet für ihre Familie ein Schulausflug, an anderer Stelle massiv einsparen zu müssen. Das belastet die Familie und damit sie selbst. Es nimmt Unbeschwertheit. Kinder sollten frei von solchen Dingen aufwachsen können. Wir sprechen hier nicht von Luxus, sondern davon, dass Schule ein Ort sein soll, der Chancen aufzeigt. Doch leider zeigt er Kindern aus armutsbetroffenen Familien bis heute, wie eingeschränkt die Möglichkeiten sind. Schule zeigt Kindern, dass Teilhabe selbst im Bildungsbereich keineswegs selbstverständlich ist. Je sensibilisierter Schulen und Elternvereine sind, desto weniger belastet diese Ungleichheit die Kinder und Jugendlichen. Doch von einer flächendeckenden Sensibilisierung im Bildungsbereich sind wir noch sehr weit entfernt.

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Dabei würde vieles so einfach funktionieren, wäre Schule kostenlos. Wirklich kostenlos. Bis wir das aber erleben werden, sollte zumindest kein Kind mehr die Hürden spüren müssen. Kein Kind sollte den Schulabschluss nicht schaffen, weil kein Geld für Nachhilfe da ist. Kein Kind sollte vor der ganzen Klasse sagen müssen, dass das Geld fehlt. Es geht auch anders. Das zeigen einige Pädagog*innen in einem Versuch, den wir gestartet haben. Alle Kinder in der Klasse erhalten das Formular mit dem Ansuchen um Förderung. Alle Kinder müssen das Formular mit nach Hause nehmen und danach, in einem Kuvert, wieder abgeben. Manche ausgefüllt, manche nicht. Es hat sich gezeigt, dass, seit esso gehandhabt wird, wesentlich mehr Eltern um Förderungen ansuchen. Auf Nachfrage, weshalb erst jetzt, bekam ich zur Antwort: »Mein Kind wollte nicht vor der ganzen Klasse aufzeigen, es hat sich zu sehr geschämt.« Niemand sollte sich schämen müssen, weil das Geld nicht reicht. Doch bis wir so weit sind, könnten wir versuchen, in der Schule, im Elternverein, ja sogar in einer der (heiß geliebten) Eltern-WhatsApp-Gruppen zu sensibilisieren. Jede*r von uns, die/der eine Klasse davon überzeugen kann, trägt mehr zur Bekämpfung von Armut und Beschämung bei, als die meisten Regierungen es tun.

Armut betrifft natürlich nicht nur die Schule, sondern auch die Freizeit. Während man diese bei kleineren Kindern auch ohne viel Geld ansprechend gestalten kann, ist das bei Jugendlichen nicht mehr möglich. Eine Twitteruserin schrieb mir einmal, ich solle doch einfach mit den Kindern auf den Spielplatz gehen. Das sei kostenlos und eine tolle Freizeitaktivität für alle. Tja, ich hab dann mal meine Teenagerkinder gefragt, was sie davon halten. Dass ich ziemlich ausgelacht wurde, brauche ich sicher nicht extra zu erwähnen, oder? Wir haben unzählige Stunden auf Spielplätzen verbracht, in der Natur, bei Spaziergängen, in Gratis-Badeteichen. Niemand muss Armutsbetroffenen erklären, welche Möglichkeiten der kostenlosen Freizeitaktivität es gibt, wir kennen sie so ziemlich alle. Der Punkt ist: Kinder werden größer, die Bedürfnisse ändern sich, auch die der Freund*innen. Jugendliche sollten teilhaben können. Und Schaukeln am Spielplatz ist nicht unbedingt das, was mir zu Teilhabe bei jungen Menschen einfällt. Auch ein immer wieder gern gebrachtes Argument von Nichtbetroffenen ist: Wenn Freund*innen auf Aktivitäten bestehen, die etwas kosten, dann muss man sich eben andere Kontakte suchen. Das mag bei Erwachsenen vielleicht noch funktionieren, nicht aber bei Heranwachsenden, deren Kontakte vorwiegend aus dem schulischen Umfeld kommen. Mithalten oder Einzelgänger*in werden: So funktioniert das eben.

Wie groß der Unterschied zum Leben vor der Armut war, konnte ich an meiner großen Tochter sehen, die noch Ausflüge, Kinobesuche oder Urlaube bewusst miterlebt hatte. Sie ließ sich durch die finanzielle Situation weniger erschüttern und hat ihre Freund*innen behalten. Ich sah aber auch, was Armut mit meinen jüngeren Kindern machte, die fast alle Aktivitäten absagen mussten, weil das Geld fehlte, und sich deswegen mit Freundschaften schwertaten. Und während die Große eine gewisse Resilienz entwickelt hat, hat die Jüngste Armut in vollem Ausmaß erlebt, nie etwas anderes erlebt, und kämpft damit, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. (…)

Was fehlende Teilhabe anrichtet

Für mich persönlich, vor allem aufgrund der eigenen Erfahrung und aus der Beobachtung meiner Kinder heraus, aber auch weil es längst wissenschaftlich erwiesen ist, ist fehlende Teilhabe einer der Hauptgründe, weshalb wir Armut nur schwer bekämpfen können. Keine Teilhabe zu erleben, so gut wie immer ausgeschlossen zu sein, das hinterlässt Spuren. Man fühlt sich fehl am Platz. Man ist nicht gewollt, maximal geduldet. Es hat mich massiv beeinflusst, aber noch schlimmer sind die Auswirkungen für Kinder, die in Armut aufwachsen und nichts anderes als Exklusion kennen. Armut verhindert Chancen für Kinder. (…)

Die schlechteren Chancen beginnen schon bei der Geburt: Kinder aus armutsbetroffenen Familien haben im Durchschnitt ein geringeres Geburtsgewicht. Sie sind öfter von Herzrhythmusstörungen und psychischen Erkrankungen betroffen und haben ein schwächeres Immunsystem. Ihre Ernährung ist schlechter, da sie häufig vor allem billige Kohlenhydrate zu essen bekommen, was nicht nur ungesund, sondern auch schlecht für die Figur ist und sie so oft auch noch Bodyshaming aussetzt. Armutsbetroffene Menschen gehen weniger oft und weniger schnell zum Arzt: aus Angst vor möglichen zusätzlichen Kosten sowie wegen bereits erlebten Beschämungserfahrungen. All das führt dazu, dass Armutsbetroffene eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung haben als der Durchschnitt.

Zum Selbstschutz versucht man oft, Armut zu romantisieren oder Beschämung herunterzuspielen. »Meine Kinder haben gelernt, mit wenig auszukommen, haben fürs Leben gelernt«, redet man sich ein. Oder auch: »Wer das übersteht, ist abgehärtet.« Nein, nichts daran hilft im weiteren Leben. An Armut ist nichts schön oder romantisch, und Sparen lernen kann man nur, wenn etwas da ist, was man einsparen kann! Doch irgendwann hat man nichts mehr, was man weglassen kann. Keine

Abos, kein Auto, keinen Friseurbesuch, keine regelmäßigen Treffen im Café, kein Fitnessstudio. Am Ende bleiben nur die Lebensmittel. Auch »härtet« Armut nicht ab, im Gegenteil. Sie beschämt und lässt einen glauben, dass man weniger wert ist als andere. Und dieses Gefühl prägt einen für das ganze Leben.

Du bist arm? Dann gib 180 Prozent!

Ich muss immer wieder an die Unterhaltung mit einer Frau denken, die seit Jahren am absoluten Belastungslimit gelebt hat und der festen Überzeugung war, ein Fehler dürfe einfach nicht passieren. Ihr ganzer Alltag besteht darin, Fehler zu vermeiden. Nun stellt euch vor, euer gesamter Tag besteht daraus, alles so zu planen und vorzubereiten, dass jeder auch nur erdenkliche Fehler vermieden wird. Sei es das Ticket zu Hause vergessen, eine Rechnung übersehen und dadurch Mahngebühren zahlen zu müssen. Diese Frau ist felsenfest davon überzeugt, dass sich alle, wirklich alle Fehler vermeiden lassen. Ein Unfall? Niemals. Darf in ihrer Welt nicht geschehen. Also muss man so vorsichtig und vorausschauend wie möglich fahren. In die Radarfalle geraten? Darf nicht passieren. Eine kaputte Waschmaschine wegen Verkalkung? Darf nicht passieren. Die Kinder ruinieren beim Spielen ihren Schianzug? Darf nicht sein, so wild dürfen sie nicht spielen. Das gesamte Leben dieser Frau besteht aus Vermeidung.

Natürlich ist ihr Verhalten ein extremes Beispiel, aber bei Weitem kein Einzelfall. Es zeigt, wie stark die Angst vor unvorhergesehenen, nicht stemmbaren Kosten das Leben beeinflusst. Alles, was man nicht planen kann, darf nicht sein. Dabei haben Armutsbetroffene unglaubliche Fähigkeiten: Ihr Alltag besteht Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr aus Improvisieren, Funktionieren, Sorgenbewältigen, Lösungen für die nächsten finanziellen Hürden suchen. Doch selbst wenn man trotz aller Hürden die Projektwoche für die Kinder finanziert hat, der Familie jeden Tag trotz Minibudget Essen auf den Tisch stellt, es geschafft hat, das Budget so umzuschichten, dass die erhöhte Teilzahlung der Heizung abgebucht werden kann, bleibt die Belohnung dafür aus. Was bleibt, sind Zermürbung, Angst, Schlaflosigkeit und gesundheitliche Folgen. All die Menschen, die ich in den vergangenen Jahren kennenlernen durfte, haben eines gemeinsam: Sie sind unglaublich fähig, aber genauso verunsichert, und schaffen es nicht, die eigenen Kompetenzen zu erkennen. (…)

Von Armutsbetroffenen wird immer verlangt, das Beste zu geben, also 180 Prozent. Diesen Anspruch an mich selbst habe ich auch irgendwann übernommen. Nur wisst ihr was? Es geht sich nicht aus. Nicht in einem Leben ohne Existenzängste und schon gar nicht mit der Belastung der finanziellen Angst. Es gibt nämlich keine Möglichkeit, sich zu erholen, Kraft zu tanken. Auch Entspannen ist nicht drin. Doch genau das ist so wichtig, um volle Leistung erbringen zu können. Mich hat genau das Fehlen von Erholung, von Entspannung an den Rand der Belastbarkeit gebracht. Das wiederum bedeutet, nur noch zu funktionieren und wenig bis keine Alternativen sehen und wahrnehmen zu können. Ihr seht, wir drehen uns im Kreis und somit noch weiter in die Spirale, die abwärts geht. Es bringt übrigens auch absolut nichts, Menschen in Armut zu sagen, sie bräuchten doch keine Entspannung oder Abwechslung, da sie immerhin nichts tun würden! Das ist einer der perfidesten Sätze, die mir je entgegengebracht wurden. Abgesehen davon, dass viele Betroffene sehr wohl einer Erwerbsarbeit nachgehen, andere krank sind oder Care-Arbeit leisten – jeder Mensch braucht eine Auszeit. Heimat finden, zu Hause ankommen, auch das ist etwas, was vielen Betroffenen fehlt. Mir genauso. Umziehen, weil die Miete zu teuer wird, umziehen, weil die günstigere Wohnung voller Schimmel ist … von einer Wohnung in die andere. Oft auch von einem Ort zum anderen. Ich bin nirgends zu Hause, meine Kinder ebenso wenig. Nein, es geht nicht darum, ein Häuschen zu besitzen, sondern in einem Umfeld sesshaft zu werden, in dem man sich wohlfühlt. Zu oft hat sich unsere Wohnsituation geändert, und heute glaube ich einfach nicht mehr daran. Ich glaube nicht mehr daran, irgendwo noch eine Heimat zu finden, einfach weil die Angst nach wie vor tief drinsteckt, doch wieder ausziehen zu müssen, sobald sich auch nur ein oder zwei Umstände ändern.

Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um einen gekürzten Auszug aus:

Daniela Brodesser, Armut, Wien 2023, 47–59. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien.

Daniela Brodesser ist Bürokauffrau, Aktivistin, Kolumnistin, Mutter von vier Kindern, verheiratet. Durch zwei schwere Erkrankungen in der Familie geriet sie in Armut. Seit 2017 versucht sie, öffentlich auf die Folgen wie fehlende Teilhabe, Beschämung und Rückzug aufmerksam zu machen. Seit 2019 lebt sie wieder über der Armutsgefährdungsschwelle.