Auftakt.

Elisabeth Naurath

Sehnsucht nach Frieden – Zur Notwendigkeit einer religionspädagogischen ›Zeitenwende‹

›Frieden‹ ist aktuell zum Sehnsuchtswort geworden. Momentan stellt sich die Frage: Was passiert da gerade mit unserer Gegenwart, mit der Zukunft? Merken wir doch oft erst, wie wichtig das für selbstverständlich Geglaubte ist, wenn wir es zu verlieren drohen. Welche Konsequenzen zieht eine subjektorientierte Religionspädagogik hieraus für die religiöse Bildung von Kindern und Jugendlichen?

Das Thema ›Krieg‹ hat sich in unserer Alltagswahrnehmung aufdringlich und unübersehbar nach vorne gedrängt. Was ist neu daran? Dass weltweit unablässig entsetzliche Kriege geführt werden, ist keineswegs eine Überraschung. Neu ist der spürbar deutliche Einfluss dieses Krieges, der ein Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist, auch auf unser Leben in Deutschland: Die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen stellt viele Kommunen vor große Herausforderungen, die Kosten für Energie, Militär und Aufrüstung steigen so massiv, dass es in privaten Haushalten schmerzlich spürbar wird, ja sogar viele angesichts der rasant angestiegenen Inflation vor existenziell bedrohlichen Finanzproblemen stehen. Neu ist auch die mediale Aufmerksamkeit: Irgendwie gelähmt – wie beim Anblick einer plötzlich aus dem Nichts aufgetauchten gefährlichen Schlange – starren wir auf den Bildschirm und sehen zerstörte Städte, zerbombte Häuser, weinende Menschen, Schützengräben und müssen erkennen, dass die sicher geglaubte Friedensordnung in Europa durch diesen Krieg vor unserer Haustüre ihre selbstverständliche Stabilität verloren hat. Ratlos fragen viele, wie das alles passieren konnte, und genauso ratlos fragen viele, wie es beendet werden oder – noch bedrohlicher – auch enden könnte: angesichts der Tatsache, dass das größte Atomkraftwerk Europas in Gefahr steht und die mit atomaren Massenvernichtungswaffen ausgestattete Großmacht Russland nicht einlenkt.

Diese Fragen und Ängste sind generationenübergreifend und doch für die junge Generation besonders brisant: Angesichts des Krieges gegen die Ukraine werden den nachwachsenden Generationen enorme Lasten aufgeladen, denn beispielsweise steigt mit einem explodierenden Militärhaushalt die Schuldenlast der Zukunft, und damit treten auch dringend notwendige Schritte gegen den Klimawandel in den Hintergrund. Angesichts der sich überlappenden Krisensituationen sprechen Jugendforscher (Schnetzer/Hampel/Hurrelmann) in ihrer Studie ›Jugend in Deutschland 2023‹, bei der sie über 1000 junge Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren befragten, von der Generation Z als einer ›Generation Zukunftsangst‹. Interessant ist hierbei, dass im Krisenszenario ›Krieg in Europa‹ und einem akuten Anstieg an Sinnfragen die Krisenressource Religion für junge Menschen in Deutschland kaum eine Rolle spielt (Bertelsmann-Stiftung). Von daher stellt sich die dringliche Frage: Welche Konsequenzen zieht eine subjektorientierte Religionspädagogik (Altmeyer u. a.) aus diesen aktuellen Anforderungen für die religiöse Bildung von Kindern und Jugendlichen?

Die Wiederentdeckung des Themas Frieden

Zunächst ist es ernüchternd, festzustellen, dass das Thema ›Friede‹ als genuin theologisches Thema aus den Bildungsplänen und Religionsbüchern fast verschwunden ist (Landgraf 12 ff.) und nun angesichts der situativen Dringlichkeit sehr stark von religionspädagogischen Instituten und Religionslehrkräften nachgefragt wird. Wurden friedenspädagogische Dimensionen in den vergangenen Jahren vor allem mit Blick auf religiöse und weltanschauliche Pluralisierungsphänomene für (inter)religiöse Bildungsprozesse eingebracht, so geht es nun wieder grundsätzlich um ›Krieg und Frieden‹. In theologischer Hinsicht drückt sich im Begriff ›Schalom‹ alle Hoffnung auf das durch Gott geschenkte Heil im Sinne vom guten, harmonischen und sinnerfüllten Zusammenleben aller Menschen aus. Dies impliziert ein positives Friedensverständnis, das sich vom negativen Frieden als dem ›Schweigen der Waffengewalt‹ abgrenzt. Da für den biblischen Friedensbegriff konstatiert werden kann, dass im Alten wie im Neuen Testament die Termini ›Frieden‹ und ›Gerechtigkeit‹ meist verbunden verstanden sind (so z. B. in Ps 85,11: ›Gnade und Treue finden zusammen, es küssen sich Gerechtigkeit und Friede‹), wurde der »›gerechte Friede‹ als Leitperspektive einer christlichen Friedensethik« (Kirchenamt der EKD) ins Zentrum religiöser Friedenspädagogik gestellt. Gemeint ist hierbei auch, dass nicht allein die Abwesenheit bzw. die Negation von Gewalt oder Terror den biblisch intendierten Frieden ausmacht, sondern vielmehr eine umfassend auf Gerechtigkeit basierende Sozialordnung, die allen Menschen eine gleichwertige Würde und Möglichkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft zuspricht. Dieser Perspektivenwechsel vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden wird nun allerdings durch den aktuellen Angriffskrieg gegen die Ukraine in gewisser Weise wieder eingeholt, indem die Fragen nach Waffenlieferungen die friedensethische Diskussion angeheizt haben: Muss nicht das Böse als Böses benannt und ihm Einhalt geboten werden, wenn im Falle imperialistischer Aggression Menschen unverschuldet in einen Krieg hineingezogen werden, wenn Kriegsverbrechen und massive Menschenrechtsverletzungen geschehen? In religionsdidaktischer Hinsicht hat die neue Hochkonjunktur der alten Frage nach dem ›gerechten Krieg‹ zur Folge, dass im Religionsunterricht christlich begründete pazifistische Einstellungen, die meist mit der von Jesus in der Bergpredigt geforderten unbedingten Feindesliebe begründet werden, genauso zu diskutieren sind wie die Frage nach einem auch christlich legitimierten Recht auf (Selbst-)Verteidigung, das angesichts der offensichtlichen Verletzung der Würde des Menschen einzufordern ist (Naurath).

Religionen als Friedensstifter oder Brandbeschleuniger?

Hinzu kommt, dass mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine zu Recht die Frage nach der Rolle der Religionen hochkocht: Sind religiöse Stimmen sowohl historisch wie auch gegenwärtig nicht oft auch als Kriegsantreiber und Brandbeschleuniger auszumachen? So wird in kirchlichen Verlautbarungen von evangelischer, katholischer und auch orthodoxer Seite (siehe Links) die fortgesetzte Instrumentalisierung und der Missbrauch der Religion durch das Moskauer Patriarchat verurteilt. Doch zugleich bleibt eine Ratlosigkeit darüber bestehen, dass augenscheinlich immer wieder Religionsvertreter in der Gefahr standen und stehen, aus vermeintlich theologischen Motiven ihr Gottesbekenntnis mit einem Aufruf zur Gewalt zu verbinden. Dies muss im Rahmen einer ethischen Friedensbildung im Religionsunterricht auf (selbst)kritische Weise – theologisch, historisch, sozialethisch, seelsorgerlich etc. – reflektiert, diskutiert und aufgearbeitet werden. Demgegenüber steht ein starkes, wenn auch medial kaum betontes Friedenspotenzial von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, das beispielsweise Markus Weingardt hinsichtlich der Möglichkeiten der Entschärfung von Gewalteskalation durch religiöse Vermittlungsstrategien in zahlreichen weltweiten Fallstudien aufgezeigt hat (Weingardt). Diese Chancen religiös motivierten Friedensengagements gilt es stärker als bisher publik zu machen, um dem medial negativ besetzten Bild von Religion auch das entgegenzusetzen, was alltäglich konfliktlösend und deeskalierend passiert, aber kaum Schlagzeilen generiert. Religionsdidaktisch geht es angesichts von resignativen Zukunftsängsten daher auch um visionäres Denken: Welches Potenzial könnten interreligiöse Friedensnetzwerke wie beispielsweise ›Religions for Peace‹ entfalten, wenn sie sich mit einer gemeinsamen Stimme der Religionen für den Frieden einsetzen?

Religionspädagogische ›Zeitenwende‹

Insofern ist es evident, dass sich vorliegendes Heft mit dem Titel ›Und Friede auf Erden‹ einer Religionsdidaktik widmet, die einen wesentlichen Beitrag zur Friedensbildung – auch, aber nicht nur mit Blick auf die Rolle der Religionen – leisten möchte. Das, was im politischen Kontext unter dem Stichwort der ›Zeitenwende‹ firmiert, muss gerade mit Blick auf die heutigen Schüler*innen sowohl seelsorgerlich und resilienzfördernd als auch ethisch bildend zur Sprache kommen. Neben einer interdisziplinären theologischen Sichtung des Friedensthemas bedarf es auch einer interkonfessionellen und interreligiösen Auseinandersetzung, um das Friedenspotenzial von Religionen, aber auch den Missbrauch pseudoreligiöser Argumente deutlich werden zu lassen. Nur so kann der Beitrag religiöser Friedensbildung im Konzert auch nichtreligiöser Diskurse glaubwürdig und gewichtig sein. Dann kann sich auch in religiöser Hinsicht klar zeigen: ›Sehnsucht nach Frieden‹ trägt eine theologisch fundierte Dimension der Hoffnung des Verbundenseins in Freiheit und Gerechtigkeit in sich – ein Verbundensein, dem Segen verheißen ist und dem religiöse Bildung letztlich dient.

Dr. Elisabeth Naurath arbeitet am Institut für Evangelische Theologie der Universität Augsburg als Professorin für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts. Sie ist Vorsitzende von Religions for Peace Deutschland.

Literatur

Altmeyer, Stefan u. a. (Hg.), Religion subjektorientiert erschließen (Jahrbuch der Religionspädagogik 38), Göttingen 2022.

Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Religionsmonitor 2023, Gütersloh 2023.

Kirchenamt der EKD (Hg.), Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 22007.

Landgraf, Michael, Frieden lernen. Grundfragen der Friedenspädagogik heute, in: Entwurf. Konzepte, Ideen und Materialien für den Religionsunterricht 1/2014.

Naurath, Elisabeth, Frieden und Krieg/Terrorismus, in: Simojoki, Henrik/Rothgangel, Martin/Körtner, Ulrich H. J. (Hg.), Ethische Kernthemen: lebensweltlich – theologisch–ethisch – didaktisch (Theologie für Lehrerinnen und Lehrer 4), Göttingen 2022, 143–154.

Schnetzer, Simon/Hampel, Kilian/Hurrelmann, Klaus, Trendstudie Jugend in Deutschland. (https://simon-schnetzer.com/jugend-in-deutschland-2023-mit-generationenvergleich/; Zugriff am 1.7.23).

Weingardt, Markus A., Religion Macht Frieden. Das Friedenspotenzial von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Stuttgart 2007.