Auftakt.

Johannes Heger/Lukas Ricken

Schimpfen?! Religionspädagogische Schlaglichter

Schon Vorschulkinder können das Schimpfen differenziert wahrnehmen: Sie haben ein Gespür dafür, dass das verpönte Erziehungsinstrument auch notwendig sein kann. Zugleich können sie auch negative Konsequenzen umreißen. Diese mit intensiven Emotionen verbundene Ambivalenz des Schimpfens verlangt nach einer (religions-)pädagogischen Reflexion.

Wann haben Sie das letzte Mal auf etwas, mit jemandem oder über jemanden geschimpft? Und wann wurden Sie das letzte Mal geschimpft? Es ist unangenehm, ja manchmal sogar mit Scham verbunden, über das Schimpfen nachzudenken. Trotzdem ist es fester Bestandteil unseres Alltags und der pädagogischen Beziehungen, in denen wir arbeiten und leben. Daher ist es sinnvoll, wenn nicht sogar notwendig, das Schimpfen genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie die vielfältigen Beiträge des vorliegenden Heftes zeigen, lässt sich mit diesem nur scheinbar waghalsigen Experiment zwischen produktivem und destruktivem Schimpfen unterscheiden. Denn ein begründetes, an Kriterien ausgerichtetes Schimpfen erweist sich in vielfältiger Hinsicht und in vielen Situationen durchaus als ein funktionales Instrument – sei es als kathartisches Momentum des Umgangs mit sich selbst, als unmittelbar-authentische interpersonale Rückmeldung oder auch als erzieherische Orientierung.

Was analytisch als These verdichtet nebulös, wenn nicht sogar streitbar anmutet, wird im Folgenden durch unterschiedliche Spotlights aus zwei Denkrichtungen erhellt: Wertvolle Hinweise für ein produktives Schimpfen liefern zum einen Beiträge, die sich von fachwissenschaftlichen Kontexten her entwickeln. So bietet bspw. die biblische und kirchengeschichtliche Tradition nicht nur zahlreiche Belege für ein facettenreiches Schimpfen; von ihnen ausgehend lassen sich vielmehr entscheidende Ausrichtungen für ein produktives Schimpfen entwickeln. Das gleiche Potenzial entfalten zum anderen Beiträge, die von der schulischen Praxis und konkreten Erfahrungen des Schimpfens ihren Ausgangspunkt nehmen.

Ungeachtet des Zugangs kommen alle Beiträge dieses Heftes in einem entscheidenden, die Ebenen von Theorie und Praxis verbindenden Punkt überein: Über das Schimpfen kann nur dann (religions-)pädagogisch legitim reflektiert werden, wenn die Perspektive der Geschimpften Berücksichtigung findet. Dieser finale Fluchtpunkt findet nicht nur unsere Zustimmung, sondern war uns zugleich ein entscheidender Ausgangspunkt unserer Arbeit als Heftbegleiter. Um nicht nur abstrakt über die Subjektorientierung (Altmeyer et al. 2022) des Schimpfens zu reüssieren, haben wir deshalb diejenigen befragt, um die es uns geht: So wurden in einem explorativen Setting acht Mädchen und Jungen zwischen 5 und 13 Jahren entlang von Leitfragen (Kategorien: »Wer darf mit dir schimpfen?«, »Wann schimpfst du?«, »Wie fühlst du dich, wenn du geschimpft wirst?«) interviewt. Die Ergebnisse dieser Befragung finden sich in Form von signifikanten Zitaten, die über das gesamte Heft verteilt sind. Überwältigt vom Reflexionsgrad der Kinder sowie den authentischen Einblicken in ihre Gedanken- und Gefühlswelt dienten diese uns zudem als Grundlage, um aus der Perspektive der Geschimpften drei Thesen zur Reflexion sowie zur Praxis des Schimpfens zu formulieren und diesem Heft als Grundakkord voranzustellen:

1. These: Schimpfen ist ein hochemotionales, schwer greifbares Phänomen.

Den Interviewees fällt es sehr schwer, ihre Gedanken zum Schimpfen zu artikulieren. Spürbar ist es ihnen unangenehm, über diese Erziehungspraxis zu sprechen. Ihnen fehlen merklich Wort- und Sprachspiele, weil das Schimpfen zwar Teil ihres Alltags, jedoch nicht ihrer bewussten Reflexion ist. Ist diese anfängliche Barriere jedoch überwunden, wird deutlich, dass sowohl das aktive Schimpfen als auch das passive Geschimpftwerden v. a. eines auslöst – Emotionen: Schimpfen gibt »ein blödes Gefühl« (Ella, 8), man fühlt sich nach dem Schimpfen »böse« (Luisa, 7), »ein bisschen gut und ein bisschen schlecht« (Karlotta, 5).

Viele Kinder sind nach dem Schimpfen »sauer«, empfinden dieses Gefühl aber auch, wenn mit ihnen geschimpft wurde. Dies zeigt ein Verständnis dafür, dass Schimpfen mit Regelverstößen verbunden ist: »Wenn ich geschimpft werde, dann fühle ich mich nicht gut; weil dann habe ich Quatsch gemacht« (Ella, 8). Und selbst die fatale Dynamik des Schimpfens wird bspw. Hanna (10) bewusst:

»Wenn man angefangen hat zu schimpfen, dann hört man manchmal gar nicht mehr auf, finde ich. […] Danach fühlt man sich ein bisschen schlecht, weil danach, also wenn man dann wieder einen klaren Gedanken fassen kann, einem klar wird, dass man nicht hätte schimpfen müssen.«

Dass Schimpfen mit schlechten Gefühlen verbunden ist, führen die Befragten also auch darauf zurück, dass sie einen Kontrollverlust erleben und in der Rückschau feststellen, selber »ein bisschen arg« (Martin, 13) vorgegangen zu sein. Nicht nur an diesen Stellen zeigt sich ein Bewusstsein dafür, dass Schimpfen auch verbale Gewalt sein und zu körperlicher Gewalt führen kann.

2. These: Schimpfen ist in Beziehungen eingebettet.

Erstaunlich einig sind sich die Befragten darüber, wer mit ihnen schimpfen darf. Für all unsere Interviewees ist dies nur ein sehr kleiner Personenkreis:

»Nur meine Eltern dürfen mit mir schimpfen oder vielleicht sogar Lehrer. Aber … die Lehrer eigentlich eher nicht; nur bei ganz krassen Sachen. Und das passiert bei mir nicht. Naja … Und Freunde noch, aber nur, wenn die einen guten Grund haben« (Martin, 13).

In den Äußerungen wird deutlich, dass die Qualität der Beziehung darüber entscheidet, ob Schimpfen als (il)legitim erlebt wird. Sämtliche Kinder nennen ihre Mutter an erster Stelle, u. a. »weil sie der Boss hier im Haus ist« (Luisa, 7). Ob Lehrkräfte und Erzieher:innen schimpfen dürfen, hängt – z. B. bei Martin – vom konkreten Einzelfall ab. Dabei ist allen Befragten klar, dass sich Beziehungsqualität nicht durch oberflächliche »Harmonie, Wellness« und Konfliktlosigkeit ausdrückt (Boschki 2012, 179), sondern durch ein Miteinander, bei dem legitime Reibung Wärme, Nähe und Verbindlichkeit erzeugt. Die achtjährige Ella macht schließlich deutlich, dass es fremden Personen auf gar keinen Fall erlaubt sei, mit ihr zu schimpfen.

3. These: Schimpfen muss gerechtfertigt und gerecht sein.

Für die Frage nach der Notwendigkeit des Schimpfens ist vor allem die dritte und letzte Beobachtung entscheidend, die eng mit dem Beziehungsaspekt verbunden ist. Es gibt eindeutige Fälle, in denen Schimpfen »zu Unrecht« (Martin, 13) passiert, aber auch solche, in denen Schimpfen als erforderlich erscheint und teilweise sogar eingefordert wird. So erlebt es etwa die fünfjährige Karlotta als gerecht, wenn die Eltern mit den Geschwistern schimpfen, die sie geärgert haben.

Louis (7) ordnet das Schimpfen seiner Lehrerin auf eine Art und Weise ein, die vielen Lehrkräften bekannt sein wird: »Meine Lehrerin darf mich schimpfen, wenn wir mal Quatsch gemacht haben in der Schule, wenn wir nicht aufgepasst haben. Und wenn wir mal laut waren« (Louis, 7).

BILDSERIE 1

Zwischenfazit: Strategien im Umgang mit dem Schimpfen sind notwendig!

Schimpfen ist häufig eine Reaktion auf Grenz- oder Regelverletzung, Ausdruck von komplexen Emotionen wie Wut oder Hilflosigkeit. Schimpfen kann helfen, aber auch verletzen. Alle befragten Kinder sind mit dem Schimpfen gut vertraut, brauchen aber trotzdem Unterstützung, um ihre Gedanken zu versprachlichen. Dies mag als erster Hinweis darauf verstanden werden, dass es notwendig ist, intensiver über das Schimpfen nachzudenken und – nicht nur mit Kindern und Jugendlichen – über Strategien nachzudenken, das Schimpfen zu vermeiden oder wenigstens so zu gestalten, dass es nicht als verbale Gewalt erfahren wird. Denn nur so lässt sich der Umstand würdigen, dass Schimpfen in einigen Situationen auch erforderlich sein kann!

Unsere Interviewees unterscheiden genau, welche Person in welcher Situation und aus welchen Gründen schimpft, und bereits die Jüngsten können ausgehend von diesen Umständen sehr genau abwägen, ob das Schimpfen legitim ist. Mit dieser Differenzierung zwischen einem produktiven und einem unproduktiven Schimpfen und der Forderung nach einer Kriteriologie des Schimpfens decken sich die Perspektiven der Kinder mit den Erkenntnissen der Heftbeiträge.

Ausblick: Schimpfen als Impuls für Veränderungen und Vertrauensbeweis

Neben diesem kleinen Blick ins Feld des Schimpfens waren auch eine Reihe anderer Bezugspunkte treibende Kräfte bei der Hefterstellung. Besonders wichtig wurde uns eine Karikatur des Duos Hauck und Bauer: Ein Mann steht mit verschränkten Armen und bösem Gesichtsausdruck vor einer verdorrten Zimmerpflanze. Sein Vorwurf: »Weil du nicht positiv denkst!« Die Pflanze ist ganz offensichtlich gescheitert. Mit ihrem negativen Mindset konnte sie den Anforderungen der Gegenwart (zu viel/wenig Wasser, fehlender Dünger, von genug Sonne ganz zu schweigen) nicht standhalten. Selber schuld!

Aufgegriffen wurde die Karikatur von der Journalistin und Politologin Juliane Marie Schreiber. Schreiber schimpft in ihrer Monografie Ich möchte lieber nicht gegen den »Terror« des positiven Denkens an. Ihre These lautet: Jeder Impuls zur Veränderung der Gegenwart stamme »von den Unzufriedenen« (10). Dort, wo der Zwang zum positiven Denken über systemische Ungerechtigkeiten hinwegtäusche und versuche, die Verantwortung auf die oder den Einzelnen abzuwälzen, müsse erst einmal ordentlich geschimpft werden:

»Schimpfen ist der erste soziale Anstoß, sich mit anderen Gleichgesinnten zusammenzutun und sich gemeinsam über etwas zu ärgern. Alle politischen Veränderungen beginnen damit« (Schreiber 114).

Schreibers Plädoyer entfaltet nicht nur eine individuelle Überzeugungskraft, die vermeintlich jede:r Leser:in mit einer eigenen Geschichte aus Familie, Beruf, Verein oder auch Kirchengemeinde illustrieren kann. Vielmehr eignet dem Plädoyer eine Grundstruktur, die auch der christlichen Glaubenstradition tief eingeschrieben ist: So hat Jesus zwar vom Reich Gottes als Verheißung auf etwas Kommendes gesprochen, aber zugleich auch davon, dass wir Menschen als Werkzeuge Gottes an diesem Reich im Jetzt und Hier mitbauen dürfen und damit zu dessen Kommen beitragen (vgl. Böttigheimer 2020, v. a. 110–115). Konkret bedeutet dies: Wo in unserer Um- und Mitwelt Ungerechtigkeit herrscht, da dürfen und sollen Christ:innen – in Gottes Namen! – kritisieren, poltern und schimpfen, um aus Unrecht Recht, aus Exklusion Beteiligung und aus egoistischem Streben Solidarität zu machen.

Zu guter Letzt führen dieses theologische Denken und die damit eröffnete Bezugnahme auf Gott noch einmal zurück zu den Interviews und zugleich zu einem anderen, in der jüdisch-christlichen Tradition teils weniger präsenten Aspekt. Die Erkenntnis, dass Schimpfen v. a. ein Beziehungsgeschehen ist, lässt sich nämlich über die zwischenmenschliche Beziehung auf die gott-menschliche Beziehung hinausdenken (Boschki 2012, 175-177): Aus Liebe hat Gott den Menschen nicht nur auf die Welt gesetzt, sondern in Freiheit geschaffen. Für uns als Christ:innen bedeutet dies, dass wir unser Leben eigenverantwortlich im Angesicht Gottes führen. In Momenten der Freude, des Gelingens und des Erfolgs dürfen und sollen wir Gott danken und dürfen ihm Jubellieder singen. Aber auch Momente der Tiefe, des Leids und der Krankheit gehören zu unserem Leben und fordern von uns eine Antwort auf die Frage, wie diese dunklen Momente mit der Güte Gottes vereinbart werden können. Hinsichtlich dieses existenziellen, in der Theodizeefrage gipfelnden Problems kennt das Erste Testament eine zunächst überraschende, jedoch umso ehrlichere und heilsamere Option – die Klage. Selbst der getreue Gottesknecht Ijob kann irgendwann nicht mehr und schreit Gott seinen Frust entgegen (Heger 2016, 12–13) und auch manche Psalmisten müssen ihren Weg zu Gott angesichts ihrer verzweifelten Lage erst über das Moment der Klage finden (Ps 88). Diese Beispiele zeigen: Schimpfen ist in der jüdisch-christlichen Tradition nicht geächtet, sondern selbst dann erlaubt, wenn es im Modus der Beziehungsarbeit gegen Gott selbst gerichtet ist!

Diese wichtige Erkenntnis kann nicht nur irritieren, sondern den Gedankenfluss dieses Heftes mit einem letzten Gedanken justieren: Wer nämlich mit oder auf jemanden schimpft, der übergeht ihn bzw. sie nicht; wer schimpft, nimmt sein Gegenüber ernst; wer schimpft, der gibt sich nicht zufrieden, sondern will Heil – für sich, für andere und das in Gottes Namen.

Dr. Johannes Heger ist Professor für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Justus-Maximilians-Universität in Würzburg.

Lukas Ricken, M.A., ist Lehrer für Deutsch und Katholische Religionslehre an der Joseph-Beuys-Gesamtschule in Düsseldorf.

Altmeyer, Stefan et al. (Hg.), Religion subjektorientiert erschließen (Jahrbuch der Religionspädagogik 38), Göttingen 2022.

Böttigheimer, Christoph, Die Reich-Gottes-Botschaft. Verlorene Mitte des christlichen Glaubens, Freiburg 2020.

Boschki, Reinhold, Dialogisch-beziehungsorientierte Religionsdidaktik, in: Grümme, Bernhard/Lenhard, Hartmut/Pirner, Manfred L. (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik (Religionspädagogik innovativ 1), Stuttgart 2012, 173–184.

Heger, Johannes, »Es ist alles hin … alles hin … didilidi …«. Zu Ned Flanders als gelbem Ijob und der Inszenierung der Bibel bei den Simpsons, in: Roth, Ursula/Seip, Jörg (Hg.), Schriftinszenierungen (Ökumenische Studien zur Predigt 10), München 2016, 291–305.

Schreiber, Juliane Marie, Ich möchte lieber nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven, München 2022.