Auftakt.

Dominik Blum

Tier und Mensch

»Wir lernen viel über uns selbst, wenn wir etwas über Tiere lernen.«

Ein Interview mit den Tierethiker*innen Dagmar Borchers und Johann S. Ach – Die Fragen für die KatBl stellte Dominik Blum.

Liebe Frau Borchers, lieber Herr Ach, dass sich Philosoph*innen so intensiv mit Tieren beschäftigen, ist immer noch ungewöhnlich. Wann und wieso ist Ihnen die Tierethik zu einem wichtigen Thema geworden?

JA: Wenn ich im Rahmen einer Veranstaltung sage, dass ich Tiere nicht besonders mag, ruft das regelmäßig Verwunderung hervor, manches Mal Unverständnis oder Entrüstung. Aber es ist tatsächlich so, dass ich keine besondere Beziehung zu Tieren habe. Dass ich mich mit tierethischen Fragen beschäftige, hat also nichts mit einer sentimentalen Einstellung zu tun, sondern damit, dass ich im Zusammenhang meiner Magister-Arbeit und Dissertation begonnen habe, mich mit den tierethischen Positionen von Philosoph*innen wie Peter Singer, Tom Regan oder Ursula Wolf auseinanderzusetzen.

Dabei haben mich zwei Überlegungen überzeugt: Zum einen das Argument, dass Empfindungsfähigkeit darüber entscheidet, ob wir die Interessen eines Lebewesens moralisch berücksichtigen müssen oder nicht. Der Grund für die zentrale ethische Bedeutung dieser Fähigkeit ist, dass (nur) empfindungsfähige Lebewesen durch die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, in ihrem subjektiven Wahrnehmen betroffen sein können. Zum anderen das Argument, dass an einer gleichen Berücksichtigung der Interessen der Mitglieder der moralischen Gemeinschaft kein Weg vorbeiführt. Die Zugehörigkeit zur biologischen Gattung ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für den moralischen Status eines Lebewesens. Und sie rechtfertigt auch keine Ungleichbehandlung innerhalb der moralischen Gemeinschaft. Jedes empfindungsfähige Wesen verdient demnach nach Maßgabe seiner Interessen in gleicher Weise Berücksichtigung.

In meiner Dissertation mit dem Titel Warum man Lassie nicht quälen darf frage ich, was aus diesen Einsichten für die Praxis tierexperimenteller Forschung folgt. Diese Frage beschäftigt mich heute noch immer. Nicht nur theoretisch, sondern auch als Mitglied einer Kommission für tierexperimentelle Forschung der WWU Münster. Die Konsequenzen aus den angedeuteten Überlegungen gehen freilich weit darüber hinaus. Sie haben u. a. dazu geführt, dass ich seit vielen Jahren vegetarisch, seit Längerem überwiegend vegan lebe.

DB: Ich liebe Tiere persönlich sehr und möchte privat auf ein Leben mit Hunden und Pferden nicht verzichten. Sie haben in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt. Meine große Tierliebe ist der Grund dafür, dass ich seit vielen Jahren vegetarisch lebe. Aber natürlich trenne ich zwischen meinen privaten Gefühlen und der akademischen Diskussion und Argumentation. Philosophisch entscheidend ist, was man argumentativ gut und plausibel begründen kann; daran allein bemisst sich die philosophische Position, die man einnimmt. Andererseits muss ich schon sagen, dass meine Erfahrungen im Umgang mit Tieren den Hintergrund dafür bilden, wie ich einige tierethische Fragen beurteile – z. B. ob Tiere Interessen haben. Johann Ach hat recht, man muss da ganz vorsichtig sein, aber über manche Auffassungen zu diesen grundlegenden Fragen der Tierethik kann ich nur den Kopf schütteln.

Im öffentlichen Diskurs sind Tiere immer mehr Thema. Wir sprechen von Tierrechten, Tierwohl und fragen nach Persönlichkeitsrechten von Tieren. Was hat sich am Verhältnis zwischen Mensch und Tier in jüngster Zeit verändert?

JA: In der fachwissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion hat der Umgang mit Tieren zunehmend Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kritische Auseinandersetzungen mit dem Thema Tiernutzung haben mitunter Bestseller-Status erlangt. Man denke an Karin Duves Buch Anständig essen (2020). Der Deutsche Ethikrat hat vor Kurzem vom »Eigenwert« der Tiere gesprochen, die Evangelische Kirche in Deutschland von Tieren als unseren »Mitgeschöpfen«. Die Diskrepanzen zwischen dem in solchen Stellungnahmen propagierten moralischen Standpunkt einerseits und der alltäglichen Praxis bspw. der »Nutz«-Tierhaltung andererseits sind allerdings kaum zu übersehen. Die Bedingungen, unter denen »Nutztiere« vegetieren und leiden müssen, sind nicht nur, wie es in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik beim BMEL zurückhaltend heißt, in »fachlicher Sicht in weiten Teilen nicht tiergerecht«. Sie sind schlicht eine Schande. An dieser ernüchternden Diagnose hat sich in den zurückliegenden Jahren leider sehr viel weniger geändert, als viele gerne glauben wollen.

Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat gesagt: »Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.« Sind Tiere die besseren Menschen?

JA: Nein. Natürlich nicht. Es wäre, meine ich, grundfalsch, Tiere an Eigenschaften oder Fähigkeiten zu messen, die wir bei Menschen kennen und schätzen. Oder umgekehrt Tieren Eigenschaften zuzuschreiben, deren Fehlen wir beim Menschen kritisieren. Diese Überlegung ist gut vereinbar mit einem assimilationistischen Forschungsprogramm, das die Ähnlichkeiten zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen in den Blick nimmt. Nach Darwin sollte dies niemanden mehr überraschen: Menschen und nichtmenschliche Tiere unterscheiden sich teilweise erheblich voneinander; aber diese Unterschiede sind bloß gradueller, nicht kategorialer Natur. Das hat zur Folge, dass wir viel über uns selbst lernen, wenn wir etwas über Tiere lernen. Der Verhaltensbiologe Norbert Sachser hat das jüngst in einem lesenswerten Buch Der Mensch im Tier an vielen Beispielen gezeigt.

DB: Auch hier stimme ich vollkommen zu. Allerdings kann man zu dem Schopenhauer-Zitat schon viel sagen. Es spricht die großen Unterschiede zwischen Menschen und Tieren an und rekurriert auf die Unverstelltheit der Tiere. Zumindest von Haustieren wie Hunden, Katzen oder Pferden kann man sagen, dass sich eine enge und intensive Bindung bzw. Freundschaft entwickeln kann. Dabei geht es darum, dass das Tier einem vertraut. Man muss es gewissermaßen von seinen Führungsqualitäten überzeugen. Gleichzeitig sind diese Tiere sensibel und einfühlsam. Sie sind ziemlich geduldig mit uns Menschen und unternehmen erhebliche Anstrengungen, um mit uns kommunizieren zu können. Die Mensch-Tier-Beziehung ist etwas Besonderes und kann eine hohe Qualität haben.

Sie haben kürzlich das umfangreichste Handbuch zur Tierethik in deutscher Sprache herausgegeben. Was sind aus Ihrer Sicht die brennendsten tierethischen Debatten?

JA: Wo beginnen? Ich glaube, dass es auf allen Konkretionsebenen wichtige Aufgabenstellungen für die Tierethik gibt. Das beginnt bei sehr praktischen Fragen: Lässt sich eine Belastungsobergrenze für Versuchstiere begründen? Wie lässt sich der Begriff des »vernünftigen Grundes« interpretieren, der an prominenter Stelle im Tierschutzgesetz steht? Interessant ist aus meiner Sicht, wie man radikale Tierschutzforderungen und konkrete politische Forderungen sinnvoll zusammendenken kann. Wir arbeiten am Centrum für Bioethik zurzeit an einem Projekt, das danach fragt, ob man Verfahren der Genom-Editierung nutzen kann, um das Wohlergehen von landwirtschaftlich genutzten Tieren zu verbessern. Dabei muss man im Auge behalten, dass es die Haltungsbedingungen sind, die etwa ein schmerzhaftes Enthornen von Rindern erforderlich machen und so ein Nachdenken über die Herstellung hornloser Rinder motivieren. Verbesserungen des Tierwohls dürfen auf keinen Fall einen Beitrag dazu leisten, eine unverantwortliche Praxis der Nutztierhaltung zu rechtfertigen. Eine weitere Frage ist die nach unserem Umgang mit Wildtieren. Haben wir Tieren gegenüber, die nicht in Interaktionsbeziehungen zu uns stehen, moralische Verpflichtungen? Wenn ja, welche? Und schließlich: Die vielleicht dringendste und bislang zu wenig diskutierte Frage, woran es liegt, dass tierethische Einsichten selbst dann, wenn sie weithin geteilt werden, an unserem praktischen Umgang mit Tieren mitunter so verzweifelt wenig ändern.

BILDSERIE 1 Tethart Philipp Christian Haag, Orangutan eating strawberries, 1776

Können Sie kurz aufzeigen, wie sich die tierethischen Argumentationslinien entwickelt und verändert haben?

JA: Die Beziehung zwischen Mensch und Tier sowie die vielfältigen ethischen Fragen, die sich daraus ergeben, sind seit der Antike immer wieder Gegenstand philosophischen Nachdenkens gewesen. Als eigenständige Bereichsethik ist die moderne Tierethik aber erst in den 1970er-Jahren entstanden. Peter Singer forderte in seinem Buch Animal Liberation (1975), nicht zuletzt unter Berufung auf den Philosophen Jeremy Bentham (1748–1832), eine konsequente Erweiterung des Prinzips der Gleichheit über die menschliche Spezies hinaus auf nichtmenschliche Tiere. Tom Regan vertrat die Auffassung, dass die Gründe, die uns glauben lassen, dass es so etwas wie Menschenrechte gibt, Anlass geben, auch nichtmenschlichen Tieren, die »Subjekte-eines-Lebens« sind (denn genau darin, »Subjekt-eines-Lebens« zu sein, gründen Regan zufolge die Menschenrechte), moralische Rechte zuzuerkennen. Die »zweite Generation« von Tierethiker*innen teilte häufig diese grundlegenden Intentionen, hat aber deren einseitige Vernunft-Zentriertheit, deren Vernachlässigung der Vielfalt von Mensch-Tier-Interaktionen oder unpolitischen Moralismus kritisiert. Für Ursula Wolf, um ein Beispiel zu nennen, folgen aus verschiedenen Formen der Mensch-Tier-Beziehung verschiedene Handlungsanforderungen an moralische Akteure. Es macht einen Unterschied, ob wir es mit Wildtieren zu tun haben, oder mit Tieren, die in menschlicher Obhut leben (müssen). Im letzten Jahrzehnt ist zudem – u. a. angestoßen durch das Buch Zoopolis von Sue Donaldson und Will Kymlicka – eine intensive Diskussion über die Möglichkeit einer politischen Theorie der Tierrechte hinzugekommen. Verschiedene Autor*innen, in Deutschland insb. Bernd Ladwig, thematisieren die Frage des Umgangs mit nichtmenschlichen Tieren wesentlich als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, die die konkreten Beziehungen, Kooperationsverhältnisse und institutionellen Arrangements, in denen nichtmenschliche Tiere leben (müssen), normativ in den Blick nimmt. Ladwig plädiert vor diesem Hintergrund – analog zum Gender-Mainstreaming – für eine Strategie des Spezies-Mainstreaming.

Lange ist das Verhältnis zwischen Tier und Mensch in den Kategorien von Unter- und Überordnung bzw. im Blick auf angeblich ›wesentliche‹ Unterschiede beschrieben worden. Ist der Mensch ein Distinktionswesen, um seine Macht zu sichern und zu kontrollieren?

JA: Man kann sagen, dass die philosophische und die theologische Tradition dem Gedanken einer grundsätzlichen Ähnlichkeit von Mensch und Tier überwiegend skeptisch gegenüberstand. Im Zentrum der Überlegungen stand vielmehr die anthropologische These, der Mensch sei »das Tier plus X«. Mit am wirkmächtigsten war dabei die sog. Vernunft-These. Also die Behauptung, der Mensch unterscheide sich vom Tier qua seiner Vernunft. Zusammen mit der These der Gottesebenbildlichkeit hat die Vernunft-These den Umgang mit Tieren – zumindest in der westlichen Welt – nachhaltig geprägt.

Im Verhältnis zu ihren Haustieren sprechen viele Menschen inzwischen von Partnerschaft und Liebe, ja Seelenverwandtschaft. Demgegenüber steht die Ausbeutung sog. »Nutztiere«. Kann Tierethik auch als Beziehungsethik verstanden werden?

JA: Unser Umgang mit Tieren zeichnet sich offenbar durch die Kunst der Trennung und nicht immer leicht erklärbare Grenzverläufe aus, die sich daraus ergeben. Je nachdem, ob uns ein Tier als Heim-, Begleit-, Wild-, Nutz-, Versuchstier usw. begegnet, ändert sich unsere Einstellung und unser Umgang. Verschiedene Exemplare ein und derselben Spezies werden vom Menschen unterschiedlich behandelt, je nachdem, in welcher Beziehung er zu ihnen steht. Der Weg vom teuren Mitgeschöpf zum lästigen Schädling ist mitunter kurz. Ich meine allerdings, dass weder die Nützlichkeit von Tieren darüber entscheidet, welche Pflichten wir ihnen gegenüber haben, noch unsere Emotionen. Es kommt vielmehr auf die je konkreten Fähigkeiten jener Individuen an, um die es geht.

Es kann aber durchaus sein, dass weniger abstrakte Theorie als Empathie und Mitleid mit der geschundenen Kreatur die Menschen dazu bewegen, ihre Praxis zu ändern. Die Beziehungen der Freundschaft und Liebe, die viele Menschen zu Haus- und Begleittieren unterhalten, könnten ein guter Ausgangspunkt für die Tierethik sein. Dabei darf man nicht übersehen, dass auch für den Umgang mit Tieren im häuslichen Umfeld oder Kinderzimmer gilt, dass er in weiten Teilen nicht tiergerecht ist.

Welche Rolle spielen die konkreten Religionen bei der Entwicklung einer zeitgemäßen Tierethik? Sind sie Teil des Problems oder der Lösung?

JA: Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Weder mit Blick auf »die« Religionen noch bestimmte religiöse Traditionen. Es handelt sich dabei ja nicht um monolithische Gebäude, sondern um höchst differenzierte Gebilde. Ernst Bloch sagte einmal, das Beste am Christentum seien seine Ketzer. Vielleicht kann man das in aller Vorsicht auch mit Blick auf die Tiere sagen. Tatsächlich gibt es im theologischen Diskurs heute eine Reihe von Autor*innen, die sich der Geschichte des Christentums und der christlichen Theologie stellen, die maßgeblich an der großen speziesistischen Erzählung beteiligt war und ist, und die versuchen, diese Tradition mit Blick auf die Tiere neu und sozusagen tier- (und damit vielleicht auch: menschen-) freundlicher zu lesen.

DB: Generell möchte ich kritisch anfügen, dass sich »die Religionen« nicht gerade durch ein hohes Maß an tierethischer Reflexion oder ein Engagement für hohe tierethische Standards auszeichnen. Sie könnten hier viel tun, aber man hört vergleichsweise wenig zu tierethischen Fragen aus religiösen Kontexten.

Haben eigentlich junge Leute einen anderen Blick auf Tiere – und erwarten Sie sich vom Lernort Schule Impulse für eine Weiterentwicklung des tierethischen Diskurses?

JA: Ich gehöre nicht zu denen, die fordern, dass »die Schule« alles richten soll, was in der Gesellschaft schiefläuft. Das stellt nicht nur eine Überforderung einer ohnehin geforderten Institution dar, sondern dient häufig als Alibi, das es uns erspart, selbst aktiv zu werden. Trotzdem ist die Schule ein Lernort, an dem über das Mensch-Tier-Verhältnis nachgedacht werden kann und muss.

DB: Kindertagesstätten und Schulen könnten hier eine wichtige Funktion übernehmen. Sie könnten Kindern viel vermitteln in Hinblick auf die Mensch-Tier-Beziehung, das vertiefte Verständnis von Tieren, deren Verhalten und grundlegende Reflexionen zu tierethischen Fragen. Ich denke, dass Kinder daran großes Interesse haben und in der Regel Tiere mögen. Man kann das durchaus auch in einen größeren Zusammenhang des Umgangs des Menschen mit der Natur stellen. So gesehen ist es ein zentrales Thema für und in Bildungsprozessen.

Dr. Dagmar Borchers ist Professorin für Angewandte Philosophie an der Universität Bremen.

Dr. Johann S. Ach ist Geschäftsführer und als apl. Prof. wissenschaftlicher Leiter des Centrums für Bioethik an der Universität Münster.

Gemeinsam haben sie das Buch herausgegeben: Handbuch Tierethik. Grundlagen – Kontexte – Perspektiven, Stuttgart 2018.