Auftakt.

Rita Burrichter / Viera Pirker

Präsenz neu entdecken

Präsenz – so selbstverständlich, doch auch sehr hinterfragt. Zeigt sich Präsenz immer nur als gleichräumlich-gleichzeitige Gegenwart? Ist sie mehr als das, anders als das? Ist sie vielleicht eine Haltung? Erkundungen in drei Erfahrungsfeldern der Präsenz: Liturgie, Schule, Medien.

Durch eine Zeit, in der Präsenz gefährlich geworden ist, haben wir uns in Bildungszusammenhängen der Präsenz beinahe entwöhnt und zugleich wird die Grundlage der Bildung als gleichräumlich-gleichzeitige Gegenwart in ganz verschiedenen Modellen neu erprobt, reklamiert und entwickelt. Haben wir gelernt, altvertraute Modelle neu zu schätzen und zu gestalten? Haben wir gelernt, neue Modelle zu entwerfen und zu evaluieren? Wir müssen heute Präsenz begründen und argumentieren, wir können sie auf Distanz gestalten, wir entwickeln sie weiter und besinnen uns ihrer Qualität. 

Die Erfahrungen nehmen wir in diesem Heft zum Anlass, Präsenz aus verschiedenen Perspektiven neu zu denken und zu thematisieren. Was ist Präsenz in pädagogischer Perspektive, aber auch theologisch, spirituell, ästhetisch, medial? Wie wird Präsenz gestaltet? Welche neuen Erfahrungen der Präsenz ergeben sich in der Praxis? 

Näher kommen – anwesend sein

»Darf ich überhaupt hier sein?« Als sich im ersten Corona-Lockdown Gottesdienste ins Internet verlagerten, wurde das Betreten einer Kirche zur Expedition. Ausrüstung in Form von Mundschutz war zu beschaffen und vielfältige Hindernisse waren zu überwinden. Denn oft waren und blieben die Türen verschlossen, gelegentlich verwechselte man in Spendern angebotenes Desinfektionsmittel mit Weihwasser. Bankreihen waren wie Baustellen mit Flatterband gesperrt. Rigide Aufseher*innen kontrollierten gebotene Abstandsforderungen. Hier ist Gott anwesend? Dann hat er sich aber gut verbarrikadiert. »Muss ich hier überhaupt sein?« Überraschend viele – auch und gerade ältere Menschen – erleben die digitale Wendung des Liturgischen positiv: nicht da und doch dabei sein. Die eigene Wohnung wird ganz neu erfahrbar zum Raum der Gegenwart Gottes. Unzählige Anregungen zur kreativen Gestaltung kursieren und werden umgesetzt. Vielerorts etablieren sich ganz stabile Hausliturgien – bis heute. Die digitale-analoge Präsenz des Liturgischen im Alltagsraum vermag tatsächlich bei einigen die religiöse Selbstwirksamkeitserfahrung zu stärken. Natürlich wird auch die Kehrseite sichtbar im lautlosen Abschied so vieler, die festgestellt haben, dass sie ganz gut auf eine gemeindliche Anbindung verzichten können, dass ihnen der gemeinsame Gottesdienst nicht fehlt, dass die persönlichen Beziehungen und gemeinschaftlichen Aktivitäten längst durch andere ersetzt sind. Und doch: »Muss ich überhaupt hier sein?« Überraschend viele – auch und gerade jüngere Menschen – reaktivieren ganz aktuell Formen religiöser Praxis, die eine enge Verknüpfung von gleichräumlicher Präsenz und spiritueller Erfahrung von Realpräsenz beinhalten. Sie tun das nicht erst seit Corona. Schon länger ist im jugendpastoralen Kontext ein Anwachsen von Bewegungen und Initiativen zu verzeichnen, die Formen eucharistischer Anbetung pflegen, sich auf Wallfahrten begeben, unter dem Label »wor-ship« eine neue gemeinschaftliche Gebetskultur kultiviert haben. Manche dieser Praxisformen galten bereits lange als überholt, nun erscheinen sie im zeitgenössischen Gewand überraschend vital. Deren bejahende Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit und Bedeutung von leiblich-räumlicher Anwesenheit im sakralen Raum erweist sich dabei weniger als traditionales Beharren auf Kirchengeboten, sondern als ein zugleich erfahrungsgesättigtes und erfahrungshungriges Sehnen nach realpräsentischer Unterbrechung des Hier und Jetzt, nach Erfahrung von Alterität, von Transzendenz. Zu vermuten steht, dass sich hier ein Prozess der Annäherung an das Heilige vollzieht, der nicht zuletzt vermittels der sinnlich-ästhetischen Qualität von realem Raum und realer Zeit produktiv zu werden vermag. Was tun wir religionspädagogisch mit dieser Sehnsucht nach realer Gegenwart und ihren Erscheinungsformen? Sind sie »nur« Ausdruck privater Frömmigkeit oder als Herausforderung einer zeitgenössisch revidierten mystagogischen Religionspädagogik bearbeitbar?

BILDSERIE 1 Im Dialog bleiben. Fotografie: Christian J. Matuschek, 2020–2023.

Lernen in Präsenz

Menschen begegnen sich in der Schule in Präsenz, in ihrer Persönlichkeit. Wie sie sich zeigen wollen und können, wie sie da sein dürfen: Das gestaltet sich hochindividuell. Präsenz wird organisiert und instrumentalisiert durch Raumstruktur und Sitzordnungen: Die neue Schule denkt kollaborativ, in Working Spaces, sie strukturiert das Lernen durch die Raumsituation. Das Da-Sein ist die erste notwendig zu erbringende Leistung: Schulpflicht und Präsenzpflicht. Die Anforderung, sich selbst in Bildungsprozessen zu präsentieren, erzeugt auch Druck. In der Zeit der Pandemie wurde Präsenz zu einem Kampfbegriff, der Unterricht in gleichräumlicher Anwesenheit zum goldenen Kalb stilisiert. Lehrkräfte haben die Erfahrung gemacht, dass manche Schüler*innen regelrecht aufgeblüht sind in Zeiten des Distanzunterrichts – gerade die, welche die Sprachlast des Unterrichts als schwierig empfinden, die sich nicht so gut zeigen können, von der sozialen Situation des Unterrichts überfordert sind. Doch viele andere haben sich in der Distanz dem Druck der notwendigen Selbstorganisation nicht stellen können, die aktuellen Bildungsvergleichsstudien sprechen eine deutliche Sprache. Freiere Orte der Bildung und Kultur blieben deutlich länger geschlossen als die Schulen, und die Menschen tun sich auch gegenwärtig noch schwer mit der Rückkehr in Präsenz.

Die Präsenz in der Schule stellt sich als Frage nach dem Zueinander und einer Reflexionsbewegung zwischen Oberfläche und Tiefengrund.

Präsenz in Medien – mediale Präsenz

15 Minutes of Fame, Andy Warhols Satz von der Sehnsucht nach Sichtbarkeit in den Massenmedien ist längst überholt worden durch die für alle so leicht mögliche Sichtbarkeit in digitalbasierten Kommunikationskanälen, die niedrige Eintrittsbarrieren haben. Dabei sein ist alles? Präsenz in Social Media begleitet unsere Alltagskultur inzwischen seit beinahe 20 Jahren und prägt das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen heute mit. Die Identitätsprozesse von vielen jungen Menschen werden zu einem nicht unwesentlichen Teil von ihrer individuellen Mediensozialisation mit geformt. Sozialer Druck entsteht, an einer Plattform teilzuhaben oder eben nicht – FOMO, die Fear of Missing Out, wird inzwischen als psychisch problematische Situation beschrieben. DETOX als bewusste Gegenbewegung: Sich einfach mal rausschalten, rausnehmen, runterfahren, wörtlich: entgiften. Begonnen hatten die Netzwerke als User Generated Content: Sie geben das Gerüst der Plattform vor und zeigen nur Inhalte, welche die Nutzer*innen selbst hineinstellen oder posten. Der »Sende-Begriff« in diesem Wort ist hierbei von maßgeblicher Bedeutung: Im Posten eines Bildes, eines Videos, einer Meinung vollzieht sich ein Akt der Kommunikation, der durch andere Akte der Kommunikation (like, kommentieren, teilen) beantwortet werden kann. Diese Grunddynamik bestimmt Social Media nach wie vor, wobei sich die Inhalte inzwischen gewandelt haben. Längst nicht alle User sind Einzelpersonen, auch Organisationen und Gruppen generieren heute Content und müssen Präsenz zeigen auf den für sie wichtigen, von ihrer Zielgruppe angesteuerten Kanälen. Der User Generated Content wird also mehr und mehr durch Werbung ergänzt und durch zielgerichtete, von Interessen geleitete Meinungsmache ergänzt. Die hinter den Medien liegenden Dynamiken sind mitunter schwer zu durchschauen. Das Posten gehört längst nicht mehr zur Hauptbeschäftigung. Viele individuelle Nutzer*innen bevorzugen den Akt des lurken (engl.: lauern, schleichen), womit die passive Teilnahme an einem Netzwerk bezeichnet wird. Lurker betreiben einen quasi leeren Account, bleiben selbst unsichtbar, sie bevorzugen – wenn überhaupt – die individuelle Kommunikation per direct message und beobachten, was andere so tun. Akribisch werden Reaktionen und Gegenreaktionen wahrgenommen, und wer sich in den analogen oder digitalen Dynamiken der Interaktion falsch verhält, kann ein systematisches ghosting erfahren – einen vollständigen, systematischen, einseitigen Kontaktaufbruch, der ohne Ankündigung erfolgt, oder einen Shitstorm, eine teilweise zielgerichtete, konzertierte Aktion, die im Grunde die Vernichtung einer öffentlichen Person intendiert. Präsenz in Social Media besteht aus Beziehungsangeboten, die sich in konkreten Interaktionen ereignen. Sichtbar sein und sichtbar machen sind zwei Aspekte dieser Präsenz: In Social Media besteht die Möglichkeit, Themen und Interessen öffentliche Sichtbarkeit zu geben. Dies geschieht im politischen und persönlichen Bereich – in der Sichtbarkeit von Black Lives Matter, in #outinchurch und im Protest der Menschen im Iran.

Die Dynamik von Nähe und Ferne verschiebt sich im Informationszeitalter: Wenn alles gleichzeitig gegenwärtig ist, was ist dann noch von Bedeutung?

Die Dynamik von Da-Sein und Dabei-Sein verschiebt sich in der Erfahrung des Distanz-Lernens: Wenn körperliche Präsenz als Maßstab gilt, wie kann Teilnahme für verschiedene Bedürfnisse gestaltet werden?

Die Dynamik von Mitmachen und Handeln verschiebt sich in der Spiritualität: Wenn reale Gegenwart gestaltet ist, kann sie auch selbst gestaltet werden?

Dr. Rita Burrichter ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Paderborn und Schriftleiterin der Katechetischen Blätter.

Dr. Viera Pirker ist Professorin für Religionspädagogik und Mediendidaktik am Fachbereich Katholische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.