Auftakt.

Stefan Altmeyer

Falsche Propheten oder: Vertrauen ist gut, wann ist Kontrolle besser?

Wer hätte gedacht, dass ein binnenreligiöser Ladenhüter wie »Falsche Prophet*innen« unter den Vorzeichen aktueller Krisen noch einmal derart brisant sein würde? Damit ist das biblische Lernen zum Thema Prophetie herausgefordert, mehr Kritik zu wagen und diese auch zu üben. Eine Einführung in das Heftthema.

»Alarmglocken: Passt auf vor den Pseudopropheten, die den ganzen Tag nur dummes Zeug erzählen! Sie tun so, als wären sie ganz friedlich unterwegs, aber in Wirklichkeit sind sie brandgefährlich« (Mt 7,15). Man kann zum Projekt der Volxbibel stehen wie man will, in diesem Vers aus der Bergpredigt hat sie definitiv den richtigen Ton getroffen. Alles, was nach »Predigt« klingt, ist verschwunden, einschließlich des berühmten Bildes vom Wolf im Schafspelz. Falsche Propheten, so lesen wir in der Einheitsübersetzung, »kommen zu euch in Schafskleidern, im Inneren aber sind sie reißende Wölfe« (Mt 7,15). Schon die frühchristliche Bibelauslegung hat bemerkt, dass dieses Bild scheinbar jede*r sofort versteht, zugleich aber absolut offen ist, wer oder was damit gemeint ist. Im monumentalen Matthäuskommentar von Ulrich Luz heißt es dazu sogar: Kaum eine andere Stelle aus der Bergpredigt ist so oft zitiert worden wie diese, und zwar wohl einfach deshalb, weil sie »von jedem und gegen jeden verwendbar war« (Luz 531). Falsche Prophet*innen und Wolfsherzen sind immer die anderen. Die Volxbibel nun überträgt dieses offene Bild radikal in unsere Gegenwart und stellt uns Leute vor Augen, die scheinbar in bester Absicht haltlose Dinge propagieren und genau darin zu einer Gefahr für viele werden. Prägnanter lässt sich kaum artikulieren, wie aktuell das Phänomen der Falschprophetie gegenwärtig ist, vielleicht sogar aktueller denn je.

Der Abschlussteil der Bergpredigt (Mt 7,1–29) in der Übertragung der Volxbibel https://lesen.volxbibel.de/book/Matth%c3%a4us/chapter/7

Falsche Prophet*innen: erstaunlich aktuell

Dabei galt das Thema bis vor einigen Jahren eher als ein binnenreligiöser Ladenhüter, für den sich bis auf charismatische und evangelikale Gruppen kaum jemand interessierte. Nur wer überhaupt in seinem (religiösen) Umfeld mit prophetischen Phänomenen zu tun hat, muss sich ernsthaft um die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Prophet*innen bemühen. Für alle anderen ist dies ziemlich randständig. Entsprechende Antworten auf die Frage »Wie erkenne ich einen falschen Propheten?« lassen sich leicht im Internet recherchieren und folgen in der Regel einem einfachen, milieuspezifischen Muster. Man kann es auf einer Website wie »KTNJ, Keine Tricks – nur Jesus«, als »PowerTipp« nachlesen: »An der Bibel und an Jesus als Gottes lebendigen Sohn festhalten; da kann man nichts falsch machen.« Nur wer mit dem Echten bestens vertraut ist, wird eine Fälschung sicher erkennen können. Da hilft es natürlich, wenn nur wenige Klicks weiter auf passende Bibelstellen und deren eindeutige Auslegung verwiesen wird: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Doch wer hätte sich vorstellen können, dass wir es im Jahre 2022 bei Falschprophetie mit einem Thema zu tun haben, das sich keineswegs auf religiöse Randgruppen beschränkt, sondern gesamtgesellschaftlich hochaktuell ist? Wer hätte gedacht, in welchem Umfang wir mit Menschen konfrontiert sein würden, die »den ganzen Tag nur dummes Zeug erzählen«, massenhaft Anhängerschaft sammeln und darin zu »brandgefährlichen Pseudopropheten« werden: Coronaverharmloser, Impfgegner, Klimaleugner, Verschwörungstheoretiker und antidemokratische Agitatoren? Leider haben die vergangenen Krisenmonate nur allzu deutlich gezeigt, wie schnell und breit auch noch so groteske Ansichten und wilde Prophezeiungen (jüngst gerne »Geschwurbel« genannt) Verbreitung finden und sich dabei als erstaunlich immun gegen alle rationalen Aufklärungsversuche und evidenzbasierte Faktenchecks erweisen (vgl. Blume in diesem Heft). Gegen sogenannte berechtigte Sorgen, die emotional aufgegriffen, übersteigert und in diffuse Anklagen gewendet werden, lässt sich nur schwer ankommen. »Die falschen Propheten satteln eigene Ressentiments parasitär auf die bestehende Verunsicherung auf – und lenken sie gegen verhasste andere: ›die internationale Elite‹, meist gleichbedeutend mit: ›die Juden‹, ›die Flüchtlinge‹, ›die Fremden‹« (Emcke 248). Darin unterscheiden sich die aktuellen falschen Prophet*innen nicht von Demagogen früherer Zeiten, wohl aber in der Schnelligkeit und Reichweite, mit der sie ihre Ideen verbreiten (vgl. van der Velden in diesem Heft).

Schwer zu sagen: wer ist falsch?

Damit sind heute viele in ihrem Umfeld mit pseudoprophetischen Phänomenen konfrontiert, die rein sachlich auf den ersten Blick wenig bis gar nichts mit religiöser Prophetie zu tun haben. Doch dieser erste Eindruck könnte trügen, jedenfalls dort, wo es um mehr geht als das Aufstellen und Verbreiten von apokalyptischen Prophezeiungen. Solches findet sich in den aktuellen gesellschaftlichen Bezügen zwar auch – etwa wenn behauptet wurde, dass 25 % aller gegen Covid Geimpften umgehend sterben würden –, bildet aber nur einen eher unbedeutenden Teil des Phänomens. Viel entscheidender ist der prophetische Habitus, mit dem im Stile eines unbequemen Kritikers der herrschenden Eliten aufgetreten wird. Dieser ist ungleich schwieriger als falsch zu erkennen, eben genau wie bei den Wölfen im Schafspelz, die sich ja aufgrund ihrer perfekten Tarnung gerade erst dort erkennen lassen, wo sie ihre Zähne zeigen. Auch falsche Prophet*innen geben sich als Prophet*innen aus, d. h. als »Wahrheitssager [und] Visionäre, die die Gesellschaft kritisch […] wahrnehmen und das Unrecht sehen, das die meisten nicht wahrhaben wollen« (Theuer), sodass auch hier gilt, dass Vertrauen zwar gut, Kontrolle jedoch mindestens angeraten ist. Spätestens jedoch dann, wenn solche Visionäre für sich beanspruchen, »aus der Perspektive Gottes« (Theuer) zu sprechen.

»Propheten sind keine Wahrsager, sondern Wahrheitssager, sie sind Visionäre, die die Gesellschaft kritisch aus der Perspektive Gottes wahrnehmen und das Unrecht sehen, das die meisten nicht wahrhaben wollen.« https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200944/

Sucht man Kriterien für den Prophetencheck, wird man bereits in den biblischen Traditionen fündig, für die das immer schon ein Thema war (vgl. Klein in diesem Heft). Es lohnt sich auch ein zweiter Blick in das Bergpredigt-Zitat aus der Volxbibel. Klar, hierbei handelt es sich um eine freie Übertragung in eine gewollt weihrauchfreie Gegenwartssprache. Doch in einem Punkt ist diese sogar genauer als die meisten »seriösen« Bibelübersetzungen: in der Verwendung des Wortes »Pseudopropheten«. Pseudopropheten, nicht »falsche Propheten«, ist nämlich genau das, was im Griechischen hier steht. Und das macht vor allem deshalb einen Unterschied, als wir bei »falsch« immer gleich an »wahr« und damit an Wahrheit im Sinne von wahren Aussagen, an propositionale Wahrheit denken (vgl. Pemsel-Maier in diesem Heft). Propositionale Wahrheit ist dem Faktencheck zugänglich, was auch gut so ist! Hier geht es aber noch um etwas anderes: Denn der Unterschied bei »Pseudopropheten« liegt gar nicht so sehr zwischen falsch und wahr, als vielmehr zwischen Schein und Sein. Man könnte es so sagen: Die größere und schwierigere Frage als »Was ist falsch?« lautet »Wer ist falsch?« – und in diesem Sinne eben nur ein scheinbarer Prophet.

BILDSERIE 1
Eugène Thirion, Berufung der Jeanne d’Arc, 1876, Chatou: Die Heiligsprechung der Jeanne d’Arc war nicht zuletzt ein nationalpolitisches Projekt. Ihre göttliche Mission wird deshalb hier nach rechts, gen Osten gerichtet und damit auf eine deutsch-französische »Erbfeindschaft« aktualisiert.

Bibeldidaktische Vorlieben

Wenn ich es recht sehe, spielen solche kritischen und politischen Fragen in der religionspädagogischen Beschäftigung mit dem Thema Prophetie bislang keine große Rolle. Dabei stellen Prophet*innen im Vergleich zu vielen anderen als schwierig empfundenen und daher häufig gemiedenen biblischen Themen eine attraktive Alternative dar. Denn Schüler*innen zeigen sich zumeist ausgesprochen sensibel für Ungerechtigkeiten dieser Welt und »wünschen sich, dass jemand deutlich für das Recht der Schwachen und für Gerechtigkeit eintritt« (Fiß/Neebe 138). Auf dieser Basis gelingt es (scheinbar) relativ einfach, beim Thema »Prophet*innen« religiöse Tradition und lebensrelevante Fragen miteinander ins Gespräch zu bringen. Allerdings gehen dabei die kritischen Untertöne solcher »korrelativer Brücken« (vgl. Heger in diesem Heft) auch schnell verloren: Was ist mit Menschen, die heute wie Prophet*innen auftreten, dabei aber weniger die Rechte der Schwachen als vielmehr ihren eigenen Vorteil im Blick haben? Wie reagiere ich selbst auf prophetische Stimmen, die mir die Gerechtigkeitsdefizite meines eigenen Lebensstils schonungslos vor Augen stellen, z. B. mit Blick auf meinen Klimafußabdruck?

Wirklich »prophetisch« zur Sache geht es erst, wo erkannt wird, dass nicht nur »die anderen« in der Kritik stehen. Wenn keiner von sich meint, er sei ein falscher Prophet, dann sind ausnahmslos alle betroffen. Schon in der frühchristlichen Gemeindeordnung der Didache heißt es in diesem Sinne ganz unmissverständlich: »Wer die Wahrheit, die er lehrt, nicht tut, ist ein falscher Prophet« (Did 11,10). Mit diesem Kriterium an der Hand müssten die eingangs zitierten »Alarmglocken« noch sehr viel häufiger zu hören sein: »So wie man sofort kapiert, was für ein Baum das ist, wenn man sieht, was für Früchte an ihm wachsen, genauso kann man auch Menschen danach einschätzen, wie sie sich benehmen. Äpfel kann man auch nicht von Brennnesseln pflücken und Karotten wachsen nicht an Tannen« (Mt 7,16). Dies gilt wohl auch mit Blick auf die Kirche, wie Christina Kreuzwieser in ihrem an Schüler*innen der Oberstufe adressierten Video zu falschen Prophet*innen eindrücklich verdeutlicht (siehe Infokasten).

In einem Video von TheologieLIVE geht Christina Kreuzwieser (Mainz) dieser gerade heute aktuellen Frage nach und klärt dabei auch, was wahre Prophet*innen ausmacht. (TheologieLIVE ist ein Projekt der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und betreibt einen eigenen YouTube-Kanal zu theologischen Fragen aus dem Religionsunterricht der Oberstufe.) https://www.youtube.com/watch?v=Xn4GQORykCk

Mehr Kritik wagen – und üben!

Wäre es nicht also an der Zeit, gerade beim Thema Prophetie im Sinne einer ideologiesensiblen religiösen Bildung (Herbst/Menne) mehr Kritik zu wagen und auch zu üben? Kritik an gesellschaftlicher oder kirchlicher Pseudoprophetie ebenso wie Kritik an pseudoprophetischer Selbstgerechtigkeit? Gerade der Aspekt der Selbstkritik scheint wichtig, denn sonst »machst du den Lauten, wenn ein anderer mal was nicht draufhat, und kapierst dabei gar nicht, dass du selbst ein riesen Brett vorm Kopf hast« (Mt 7,3). Die Praxisbeiträge dieses Heftes zeigen Wege auf, wie ein solches Programm konkretisiert und falsche Prophet*innen zu einem ebenso kreativen wie kritisch-aktuellen Gegenstand religiöser Lernprozesse werden könnten, die auf reflektierte Urteilsbildung ausgerichtet sind: zum Beispiel indem Kriterien zur Unterscheidung erarbeitet und in (digitale) Medien zur Warnung vor Pseudoprophet*innen umgesetzt werden (Ricken), indem ein Berufsprofil »Prophet (m/w/d)« erarbeitet und projekthaft erprobt wird (Ennemoser-Bohrer) oder indem mithilfe einer Framinganalyse die Wirkmechanismen (pseudo-)prophetischer Botschaften aufgedeckt werden (Harbecke).

Was könnte der Zielhorizont solcher Lernprozesse sein? Vielleicht wären es erste Schritte hin zu einer ebenso selbstbewussten wie selbstkritischen Haltung, wie Martin Buber sie kurz nach seiner Flucht aus Nazideutschland in einem kleinen Aufsatz beschrieben hat. Dem Typus Pseudoprophet »begegnest du«, so Buber, »an jeder Straßenecke, in glänzender und in unscheinbarer Gestalt, – es ist immer derselbe. Sieh ihm ins Gesicht wie einer, der sagt: Ich kenne dich!« (Buber 135).

Dr. Stefan Altmeyer ist Professor für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Mitglied im Beirat der Katechetischen Blätter.

Literatur

Buber, Martin, Falsche Propheten (1940/41), in: Werkausgabe, Bd. 13, Gütersloh 2019, 132–136.

Emcke, Carolin, Nachwort, in: Löwenthal, Leo, Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation (1949), Berlin 2021, 243–252.

Fiß, Ann-Cathrin/Neebe, Gudrun, Prophetie, in: Zimmermann, Mirjam/Zimmermann, Ruben (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 22018, 138–144.

Herbst, Jan-Hendrik/Menne, Andreas, Ideologiekritik im Religionsunterricht? Wiederbelebungsversuch eines religionsdidaktischen Lernprinzips, in: ÖRF 27 (2019) 89–105.

KTNJ, Falsche Propheten erkennen, https://www.keine-tricks-nur-jesus.de/2014-01/falsche-propheten-erkennen.html (Zugriff: 26.7.22).

Luz, Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband Mt 1–7 (EKK, Bd. I/1). Zürich/Neukirchen-Vlyn 52002.

Theuer, Gabriele, Art. Propheten, bibeldidaktisch, in: WiReLex 2021 (Zugriff: 26.7.22).