Auftakt.

Helena Stockinger

Heterogenität und Verletzlichkeit

Menschen sind verletzlich. Dies spielt auch in der Auseinandersetzung mit Heterogenität eine wesentliche Rolle. Wie Heterogenität berücksichtigt wird, ist eng mit Diskriminierungen und dadurch verursachten Verletzungen verbunden.

Heterogenität zu bedenken, ist für viele Pädagog*innen selbstverständlich. Dabei ergeben sich immer wieder Unsicherheiten, wie dies im schulischen oder pastoralen Alltag erfolgen kann. Gerade die Tatsache, dass Menschen in Bildungsprozessen diskriminiert und verletzt werden können, verschärft die Bedeutung, Heterogenität angemessen zu berücksichtigen. Ausgehend von einigen Beispielen aus dem Schulalltag werde ich im Folgenden wesentliche Aspekte des Umgangs mit Heterogenität benennen und einige Reflexionsfragen für die pädagogische Praxis anschließen (vgl. auch Stockinger 2021).

Wer ist normal?

In religionspädagogischen Studien im Gymnasium (Engebretson 2009, Ipgrave 2016, Schihalejev 2010) wird mehrmals eine Situation geschildert, die im folgenden Satz zum Ausdruck kommt: »Über meine religiöse Einstellung spreche ich in der Schule nicht. – Hier ist das Risiko zu hoch, deswegen ausgegrenzt oder ausgelacht zu werden.«

In jeder Interaktion zwischen Menschen spielen Machtasymmetrien und Dominanzverhältnisse, Hierarchien, Status, Privilegien und Ausgrenzungen eine Rolle (Wagner 2010, 215). Diskriminierungen liegen Differenzkonstruktionen zugrunde, wodurch Personen als Mitglieder einer Personenkategorie oder einer Gruppe gelten, für die angenommen wird, dass sie anders als »die Normalen«, »die Mehrheitsbevölkerung« sind (Scherr 2017, 40). Machtverhältnisse sind aus der dominanten Perspektive nicht offensichtlich und lassen sich oft nicht durch einfaches Nachfragen feststellen. Vieles erscheint so normal, dass die Beteiligten Diskriminierungen nicht wahrnehmen.

Daher bedarf es der Reflexion und Sensibilisierung für gesellschaftliche Machtverhältnisse, die sich in den unmittelbaren Beziehungen zwischen Menschen manifestieren. Dies bedeutet, Machtasymmetrien und Dominanzverhältnisse bewusst zu reflektieren, ohne dadurch handlungsunfähig zu werden. (Religiöse) Bildung kann zur Aufrechterhaltung von Machtstrukturen beitragen, weswegen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen sind: Welche Normalitätsvorstellungen prägen das Handeln in der jeweiligen Einrichtung und die didaktische Gestaltung religiöser Bildungsprozesse? Für wen werden (religiöse) Bildungsmöglichkeiten angeboten? Wie werden Personen berücksichtigt, deren Religionszugehörigkeit, sozioökonomischer Hintergrund, Körperlichkeit, Geschlecht etc. nicht der angenommenen Normalität in der Schule entspricht? Wer wird berücksichtigt, wer wird übersehen? Beispielsweise entsprechen religionsdidaktische Grundentscheidungen häufig dem milieuspezifischen Habitus der Religionslehrer*innen und benachteiligen bestimmte Personen (Altmeyer/Grümme 2014, 322), ohne dass dies den handelnden Akteur*innen bewusst ist. Die Reflexion des eigenen Selbstverständnisses kann Schulen darin unterstützen, sich zu einem Raum zu entwickeln, in dem Vielfalt »normal« ist.

Wer wird zum »anderen« gemacht?

Eine Lehrkraft spricht einen jüdischen Jungen in der fünften Jahrgangsstufe, die von seinem religiösen Hintergrund nichts weiß, vor der gesamten Klasse im Religionsunterricht an: »Aber du weißt doch darüber mehr Bescheid, du bist doch Jude und kannst uns was darüber erzählen« (Bernstein 2020, 88).

BILDSERIE 1
Philip Waechter, Ein Tag mit Freunden, Beltz & Gelberg, Weinheim 2021.
Am liebsten streifen Waschbär, Fuchs, Dachs, Bär und Krähe (fünf ziemlich unterschiedliche Typen) zusammen durch Wiesen, pflücken Beeren und lassen sich die Sonne auf Fell und Federn scheinen. Ein Tag mit echten Freunden ist das Allerschönste!

Hier wird deutlich eine Differenz markiert – ohne zu wissen, ob die angesprochene Person in der Klasse mit ihrer Religionszugehörigkeit sichtbar werden möchte. Religion wird von der Lehrperson als Unterscheidungsmerkmal gesetzt und eine Person auf ihre religiöse Identität reduziert. Damit einher geht die Gefahr, Personen eine Andersheit zuzuschreiben, sie darauf zu fixieren und Prozesse des Otherings zu fördern. Dies kann auch in bester Absicht geschehen, wenn beispielsweise Begegnungsphasen zwischen unterschiedlichen religiösen Gruppen eingeplant werden und Personen über »ihre« Religion Auskunft geben sollen. Ein typisches Beispiel »verkennender Anerkennung« (Bedorf 2010). Schüler*innen werden mitunter stereotyp wahrgenommen. Sie werden mit Erwartungen konfrontiert und auf eine Position der Differenz festgelegt. Auch Schüler*innen, die sich selbst nicht als religiös verstehen, können sich einer solchen Logik nur schwer entziehen. Religiöse und weltanschauliche Vielfalt ist heterogener als sich dies in Zuordnungen zu einer Religionsgemeinschaft ausdrücken lässt. Personen können nicht von außen auf ihre Differenz festgelegt werden, da sowohl Zugehörigkeiten als auch das Verständnis, das Personen von sich selbst mitbringen, fluide sind und sich stets verändern können. Eine Zuordnung in eine Differenzkategorie würde somit der Individualität der jeweiligen Person nicht gerecht werden. Die Berücksichtigung von Differenz, ohne Personen auf diese festzulegen, ist eine Herausforderung im pädagogischen Alltag. Einerseits können Bildungsprozesse ungewollt Verletzungen verursachen, wenn Differenzen nicht thematisiert und anerkannt sind. Andererseits kann die Thematisierung und Anerkennung von Differenz aber auch Machtverhältnisse reproduzieren, den Status einer Gruppe als »Andere« manifestieren und dadurch Verletzungen mit sich bringen (Mecheril/Plößer 2009, 206). Die Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen kann dazu führen, eigene Vorstellungen nicht unreflektiert auf vermeintliche Gruppen zu übertragen: Welche Gruppen werden konstruiert, wer wird welchen Gruppen zugeschrieben (bspw. den Christ*innen, den Fleißigen)? Inwiefern können sich Personen den Gruppenzuordnungen entziehen? Wie beeinflusst die vermeintliche Zuordnung zu Gruppen das pädagogische Handeln?

Wer gehört dazu?

In einer ethnografischen Studie an einer Hauptschule (Artamonova 2016, 72) wird folgende Situation beobachtet: Ein Lehrer macht in der Gesamtklasse Witze über den kulturellen Hintergrund eines Schülers. Die gesamte Klasse, auch der betroffene Schüler, lacht. Im Anschluss meint der Schüler im Gespräch mit der Forscherin, dass er mitlacht, um nicht als schwach zu gelten.

Die benannte Beobachtung der gemeinsam lachenden Schüler*innen verweist neben der nicht beachteten Hierarchie von Lehrer*innen und Schüler*innen auf unsichtbare Verletzungen: Obwohl den Schüler die Witze des Lehrers verletzen, lacht er mit. Zwei Verletzungen können in dieser Situation vorkommen: Zum einen wird der kulturelle Hintergrund des Schülers herabgesetzt und zum anderen darf er seine mit dieser Verletzung verbundenen Emotionen nicht zeigen, um nicht erneut beschämt und somit abermals verletzt zu werden.

Für den Jugendlichen kann dies ein Ausdruck dafür sein, dass ein Teil von ihm nicht anerkannt wird, wodurch sich die Frage nach Zugehörigkeit stellt. Inwieweit diese eine Rolle spielt, hängt davon ab, ob eine Person sich selbst als zugehörig erlebt oder nicht. Besonders relevant ist die Frage für diejenigen, die als Andere kategorisiert werden und deren Zugehörigkeit bestritten oder gar abgelehnt wird (Riegel & Geisen, 8). Zugehörigkeiten müssen immer wieder neu ausgehandelt werden, da Merkmale der Zugehörigkeit durch die Herausbildung sozialer Differenzen hergestellt werden. Für Pädagog*innen bedeutet dies, auf Ausschlussmechanismen zu achten: Wo findet Ausgrenzung im Unterricht statt? Wie wird mit Personen umgegangen, die nicht am Religionsunterricht oder an religiösen Angeboten in der Schule teilnehmen? Da Verletzungen nicht immer sichtbar sind, und auch unsichtbare verletzende Erfahrungen stattfinden, gilt es, in der Schule ein Bewusstsein hierfür zu entwickeln. Inwiefern gibt es Räume, wo erlebte Verletzungen ohne Angst vor Beschämung bearbeitet werden können?

Wer wird besonders verletzlich gemacht?

Die Fragen, wer als normal angesehen wird, wer zu »anderen« gemacht wird und wer zugehörig ist, spielen je nach Kontext für Personen eine unterschiedliche Rolle. Wird Heterogenität nicht angemessen bedacht, wirkt sich dies auf Personen verschieden aus – es kann bestimmte Personen bevorteilen, andere Personen benachteiligen und deren Risiko für Verletzungen erhöhen und Verletzungen bewirken. Heterogenität im Wissen um die Verletzlichkeit von Menschen zu berücksichtigen, ist somit eine Frage der Gerechtigkeit. Die Beiträge dieses Heftes setzen dazu unterschiedliche Akzente. n

Helena Stockinger ist Universitätsprofessorin für Katechetik, Religionspädagogik und Pädagogik an der Katholischen Privat-Universität Linz und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Katechetischen Blätter.

Literatur

Altmeyer, Stefan/Grümme, Bernhard, Gerechtigkeit durch religiöse Bildung. Drei Frage- und ein vorsichtiges Rufzeichen, in: ThPQ 162 (2014) 3, 314–324.

Artamonova, Olga V., »Ausländersein« an der Hauptschule. Interaktionale Verhandlungen von Zugehörigkeit im Unterricht. Reihe Pädagogik. Transcript 2016.

Bedorf, Thomas, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin 2010.

Bernstein, Julia, Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen, Weinheim-Basel 2020.

Engebretson, Kath, In your shoes: inter-fatih education for Australian religious educators, Ballan 2009.

Geisen, Thomas/Riegel, Christine, Jugendliche MigrantInnen im Spannungsfeld von Partizipation und Ausgrenzung – eine Einführung, in: dies. (Hg.), Jugend, Partizipation und Migration. Orientierungen im Kontext von Integration und Ausgrenzung, Wiesbaden 2009, 7–28.

Ipgrave, Julia, Relationships between local patterns of religious practice and young people’s attitudes to the religiosity of their peers, in: Arweck, Elisabeth/Jackson, Robert (Hg.): Religion, education and society, London 2016, 13–25.

Mecheril, Paul/Plößer, Melanie, Differenz, in: Andresen, Sabine (Hg.), Handwörterbuch Erziehungswissenschaft (Studium Pädagogik), Weinheim 2009, 194–208.

Scherr, Albert, Soziologische Diskriminierungsforschung, in: ders./El-Mafaalani, Aladin/Yüksel, Emine (Hg.), Handbuch Diskriminierung. Wiesbaden 2017, 39–58.

Schihalejev, Olga, From Indifference to Dialogue? Estonian Young People, the School and Religious Diversity, Münster u. a. 2010.

Stockinger, Helena, Konturen einer verletzlichkeitssensiblen Religionspädagogik. ThPQ 170 (2022) 2, 174–182.

Wagner, Petra, Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg-Basel-Wien 2010.