Auftakt.

Viera Pirker

Von der Bedeutung der Freundschaft

Freundschaften sind wichtige Beziehungen für Kinder und Jugendliche in allen Altersstufen. Sie prägen ihren Alltag mit Glück und Leid, beeinflussen die kindliche Entwicklung und den Prozess der Identitätsbildung in Pubertät und Jugendalter. Auch gesellschaftlich sind Freundschaften relevant: Menschen gehen freiwillig Sozialbindungen ein, die für das ganze Leben Bedeutung haben.

Frieden und frei, Freund und friend: Alle diese Begriffe gehen auf die germanische Wurzel frij-o zurück, die für »jemanden freundlich behandeln«/»um jemanden werben« steht. Freundschaft bezeichnet eine persönliche, wechselseitige, bedeutsame Beziehung, deren Gestaltung jenseits sozial normierter Rollen auf der Freiwilligkeit zweier Menschen beruht. Sie folgt idealerweise keinen gesellschaftlichen Normen. Eine über die Zeit gewachsene Freundschaft kann ein besonderes Verhältnis von Nähe und Distanz, von Vertrauen und Respekt entwickeln. Wer einander freund ist, lebt Gemeinschaft (vgl. Krinninger 16–18). Aber wie entsteht Freundschaft, was bedeutet sie für Menschen? Und für die Gestaltung von Gesellschaft?

Was aktuelle Kinder- und Jugendstudien sagen

Freundschaften sind wichtig für das Wohlbefinden von Heranwachsenden. Laut der World Vision-Kinderstudie 2018 haben 36 % der Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren zehn und mehr Freunde, 48 % vier bis neun Freunde, 15 % ein bis drei Freunde. »Richtig gute« Freunde haben 50 % der Kinder nur »zwei bis drei«. Mädchen haben mehr Freunde, Jungen hingegen eher »richtig gute«. Zwischen Stadt und Land besteht kein Unterschied, wohl aber nach sozialer Herkunft: Kinder aus der Oberschicht haben deutlich mehr Freunde, sie verfügen über ein ausgeprägteres soziales Kapital als Kinder aus sozial niedriger Schicht. Doch unabhängig davon sind Kinder zufrieden mit ihrem Freundeskreis, wobei diese Zufriedenheit bei Kindern mit Armutserleben und aus bildungsfernen Elternhäusern weniger ausgeprägt ist. Kinder in Ganztagsbetreuung haben in der Regel mehr Freunde, was mit einer entzerrten, gemeinsam verbrachten Tagesstruktur zusammenhängen kann. Dies ist im Osten Deutschlands besonders häufig der Fall. Migrationshintergrund macht keinen Unterschied, jedoch die Staatsangehörigkeit: Kinder ohne Migrationshintergrund sowie Kinder mit Migrationshintergrund und deutscher Staatsbürgerschaft sind sozial gleich integriert, während Kinder ohne deutsche Staatsbürgerschaft eher kleinere Freundeskreise und weniger »richtig gute« Freunde haben. Im Freizeitverhalten lässt sich ein Rückgang beobachten: 56 % der 8- bis 11-Jährigen sagen, dass sie ihre Freund*innen in der Freizeit »sehr oft« treffen, 10 Jahre zuvor waren es 68 %. Die Studie gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass persönliche Freundschaften durch das Kommunizieren mit Freund*innen im Internet verdrängt würden. Von den 10- bis 11-Jährigen, die das Internet besonders intensiv nutzen, »scheinen Kinder mit vielen und intensiven Kontakten ihre Freundschaften ›auf allen Kanälen‹ zu führen« (World Vision 142).

BILDSERIE 1 Bleiglasfenster aus der Werkstatt Lorin in Chartres, nach Kartons von Charles Alexandre Crauk, kath. Kirche Sacré Cœur in Lille (Frankreich), 1890

Für Jugendliche gelten 2019 Familie und soziale Beziehungen als »die mit Abstand wichtigsten Wertorientierungen, die so gut wie alle Jugendlichen für sich gewährleistet sehen wollen« (Shell 20), sie sind ihnen sogar noch wichtiger als Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit. Dabei steht die Qualität sozialer Beziehungen aus Sicht der Jugendlichen vor ihrer Quantität. »Für 97 % aller 12- bis 25-Jährigen sind ›gute Freunde, die einen anerkennen und akzeptieren‹, wichtig, und nur 71 % finden es ebenso wichtig, viele Kontakte zu anderen Menschen zu haben« (Shell 26). Eine Beobachtung aus der Kindheit setzt sich fort: Fast 90 % der 12- bis 25-Jährigen sind sehr zufrieden bzw. zufrieden mit dem eigenen Freundeskreis, doch auch in dieser Altersgruppe ist die Herkunftsschicht bedeutsam: »Während sich 56 % der Jugendlichen aus der oberen Schicht sehr zufrieden mit ihrem Freundeskreis äußern, sind es nur 36 % in der unteren Schicht« (Shell 26).

Was Freundschaften fördert und erleichtert

Auch in Freundschaften wirkt der Matthäuseffekt: ›Wer hat, dem wird gegeben.‹ Die soziale Herkunft wirkt schichtspezifisch als Faktor für den Aufbau gelingender Freundschaften. In den höheren, auch bildungsorientierteren Schichten wissen Eltern um die Bedeutung des Aufbaus von Freundschaften und nehmen sich dafür eigens Zeit. Sie organisieren den sozialen Kreis ihrer Kinder und bieten Gelegenheiten, Gleichaltrige zu treffen, indem sie z. B. schon früh Playdates verabreden. Diese Kinder und Jugendlichen haben ein ausgeprägteres, kostenintensiveres Freizeitverhalten, sind z. B. häufiger Mitglied in Vereinen, in denen sie Gleichaltrige kennenlernen können. Sie haben mehr Möglichkeiten, Freund*innen nach Hause einzuladen und ihr Sozialleben eigenständig zu gestalten. Die Eltern leben ihren Kindern vor, welche Bedeutung ein ausgeprägtes soziales Netz hat, und helfen ihnen, ein solches aufzubauen. Auch hier gilt: »Soziale Benachteiligung beeinträchtigt soziale Integration« (World Vision 131).

Sozialisationsprozesse begleiten Menschen durch ihr gesamtes Leben, von der Geburt bis hinauf ins hohe Erwachsenenalter. Die Fähigkeit, gelingende Freundschaften zu schließen, hängt auch mit der Bindungsfähigkeit zusammen. In der Bindungsforschung wird angenommen, »dass der Bindungsstil der frühen Kindheit ein zentrales Bezugssystem für die Gestaltung sozialer Beziehungen darstellt. Mehr als andere Theorien verstehen bindungstheoretische Ansätze enge Bindungen und Beziehungen als Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse, die auf der Reziprozität in den primären Sozialbeziehungen zu den Eltern, in sozialen Einbindungen in Peergruppen, Freundschafts- und in späteren Partnerschaftsbeziehungen beruhen« (Fuhrer 129). Dies entspricht einer evolutionär angelegten »Neigung, emotional geprägte, überdauernde Beziehungen zu ausgewählten Personen zu entwickeln« (ebd.). Eine sichere Bindungsrepräsentation prägt sich aus in einem stabilen Freundschaftsnetz, das einhergeht mit sozialer Akzeptanz und dem persönlichen Wohlbefinden innerhalb des Netzwerks, in dem Vertrauen eine wichtige Rolle spielt. Menschen mit unsicherer Bindungsrepräsentation haben diesbezüglich erschwerte Voraussetzungen.

Was Beziehungen zu Gleichaltrigen bedeuten

Peer-Beziehungen gelten entwicklungspsychologisch als wesentlicher Kontext für die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. In gleichberechtigten und wechselseitigen, vertrauten Beziehungen entstehen Denk-, Empathie- und Kooperationsfähigkeit. Heranwachsende erhalten »emotionale Unterstützung und die Bestätigung des eigenen Denkens, der eigenen Gefühle und des eigenen Wertes sowie die Bereitstellung von Rahmenbedingungen, um wichtige soziale und kognitive Fähigkeiten entwickeln zu können« (Siegler u. a. 489).

Was meist als ›Schönwetterfreundschaft‹ beginnt, erhält zunehmende Intensität und gewinnt Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen. Peers ko-konstruieren eine gemeinsame Sinnwelt, gemeinsame kognitive Strukturen, die ihre Identitätsbildung unterstützt. »Entsprechend leiden Kinder, wenn sie durch äußere Umstände (Umzug, Schulwechsel) gute Freunde verlieren, was von Lehrern und Eltern oft zu leicht genommen wird in der problematischen Annahme, für Kinder sei es alltäglich, Freunde zu wechseln. Die Bedeutsamkeit von Freunden wird besonders deutlich an den Entwicklungsnachteilen, die Kinder ohne Freunde erleiden« (Oswald 327).

Welche Werte und Interessen Heranwachsende teilen

Kleinkinder: wählen andere Kinder aus, bevorzugen sie (Berühren, Anlachen, Interaktionen)

Schulkinder: Kameradschaft, Ähnlichkeit der Einstellungen und Interessen, Akzeptanz, Vertrauen, Aufrichtigkeit, wechselseitige Bewunderung, Loyalität, Zugehörigkeit, Bestätigung

Jugendliche: Treue, wechselseitiges Verständnis, Selbstoffenbarung, kooperative Reziprozität (dass man gegenseitig dasselbe füreinander tut), Gleichberechtigung, Vertrauen zwischen Freunden, weniger Konformitäts- und Gruppendruck

(vgl. Siegler u. a. 486–489)

Freundschaften können Kinder durch schwere Erfahrungen hindurch tragen, beispielsweise indem sich Freunde gegen verbale oder körperliche Schikane durch andere Personen verteidigen, einander Hilfestellung geben und Sicherheit verschaffen. Fünftklässler, die über erwiderte beste Freundschaften verfügen, werden von den anderen Kindern in der Klasse »als reifer und kompetenter, als weniger aggressiv und als sozial profilierter eingeschätzt« (Siegler u. a. 492) im Vergleich zu Fünftklässlern ohne solche Freundschaften. Dies wirkt sich auch später aus. In einer Langzeitstudie berichten junge Menschen, die gute Freundschaften in der Kindheit hatten, mit 23 Jahren »von besseren Leistungen im College und besserem Auskommen mit ihrer Familie und in ihrem sozialen Leben […] von höherem Selbstwertgefühl, [sie] kamen seltener mit dem Gesetz in Konflikt und zeigten weniger psychische Auffälligkeiten (z. B. Depression)« (ebd.).

Was Freundschaften für die Gesellschaft wirken

Das Auswahlprinzip von Freundschaften basiert meist auf Homogenität. Doch nicht allein in einer pluralen, auch religiös und weltanschaulich divers geprägten Gesellschaft ist es von besonderem Interesse, ob und wie Freundschaften als Sozialbindungen zur gesellschaftlichen Kohäsion beitragen können, indem sie Schichten durchdringen, Kulturen überschreiten, Gruppengrenzen auflösen. Religionsgemeinschaften, Sport, Interessensverbände, politische Vereinigungen galten immer als Orte, an denen solche gleichsam grenzüberschreitenden Freundschaften entstehen können, doch deren Bindekraft sinkt, während sich zugleich kaum neue Orte solcher Gemeinschaftsbildung entwickeln. Gesellschaftlich besteht zudem angesichts des demografischen Wandels ein Interesse darin, generationenübergreifende Freundschaften zu stützen, beispielsweise durch intergenerationelle Initiativen und Mehrgenerationenhäuser. Privates kann politisch wirken: Diese Grunderkenntnis gilt auch für den Bereich der Freundschaft.

Dr. Viera Pirker ist Professorin für Religionspädagogik und Mediendidaktik im Fachbereich Katholische Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt und Mitglied im Beirat der Katechetischen Blätter.

Literatur

Fuhrer, Urs, Die Rolle enger Bindungen und Beziehungen, in: Hurrelmann, Klaus u. a. (Hg.), Handbuch Sozialisationsforschung, Weinheim 72008, S. 129–140.

Krinninger, Dominik, Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung. Empirische und begriffliche Untersuchungen zu einer sozialen Theorie der Bildung, Bielefeld 2015.

Oswald, Hans, Sozialisation in Netzwerken Gleichaltriger, in: Hurrelmann, Klaus u. a. (Hg.), Handbuch Sozialisationsforschung, Weinheim 72008, S. 321–332.

Siegler, Robert, Eisenberg, Nancy u. a., Beziehungen zu Gleichaltrigen, in: Dies., Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, Wiesbaden 42016, S. 485–527.

World Vision e. V. (Hg.), Kinder in Deutschland. 4. World Vision Kinderstudie, Weinheim 2018.

18. Shell Jugendstudie (Hg.), Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort, Weinheim 2019.