Auftakt.

Paulina Fröhlich

Was machen wir daraus? Das ist die Frage.

›Nicht politisch‹ geht nicht! Politische Bildung und politisches Handeln sind nichts, wofür oder wogegen man sich entscheiden könnte. Denn im Alltag sind wir bereits tief in politische Fragen verstrickt. Machen wir was draus!

Alle Bereiche unseres Lebens haben eine politische Dimension. Direkte politische Einflüsse auf unser Leben sind zum Beispiel Regeln wie das Arbeitsschutzgesetz oder die Schulpflicht. Indirekte Einflüsse sind so etwas wie vorgelebte Rollenverständnisse (z. B. der strenge Vater und die liebende Mutter) oder auch erste prägende Erfahrungen mit der Polizei (vertrauen wir den Polizist*innen oder ist das Verhältnis von Angst begleitet?). Die Gründe, weshalb wir an einem bestimmten Ort geboren wurden, liegen häufig an einer Familiengeschichte, die durch gesellschaftspolitische Umstände geprägt ist – sei dies eine Flucht vor Krieg oder ein Umzug wegen eines Jobangebots, dass nur dort zu finden war. So lassen sich in jeder Lebensphase eines Menschen politische Umstände finden, die ihn oder sie beeinflussen. Gleichzeitig sind wir Teil dieser Prägung, denn auch wir wirken auf Menschen, wir wählen Parteien, wir halten oder brechen Regeln, wir erziehen Kinder, wir geben Geld aus und wir benutzen bestimmte Formulierungen. Die Frage lautet also nicht, ob unser Leben politisch beeinflusst ist oder ob unser eigenes Handeln andere gesellschaftspolitisch beeinflusst, sondern vielmehr, wie bewusst uns dieser Umstand ist und wie wir damit umgehen wollen. Kurz: Was machen wir daraus?

Ich möchte von drei Erlebnissen aus meinem Leben berichten. Heute weiß ich, sie haben mich politisiert und sie haben mich weitergebracht. Ich habe gelernt, herausfordernde Situationen als Chance zu begreifen.

Junge oder Mädchen

In meiner Grundschulzeit wollte ich ein Junge sein. Ich hatte sehr kurze Haare, trug ›Jungsklamotten‹ und kloppte mich in den Pausen. Meine Lehrerin rief meine Eltern an und sagte: »Paulina ist gar kein richtiges Mädchen.« Meine Eltern aber bestärkten mich darin, so zu sein, wie ich es für richtig hielt. Sie sagten mir jedoch, dass der Haarschnitt, die Kleidung oder die Toberei nicht bestimme, ob ich ein Mädchen oder ein Junge sei. Rückblickend glaube ich, dass mein Kindheitswunsch an gesellschaftspolitischen Umständen lag. Ganz nach den Vorstellungen meiner Lehrerin waren die allermeisten Mädchen in meiner Schule ruhig, sie trugen Kleider und hatten lange geflochtene Haare. Auch in Filmen und Büchern gab es überwiegend diese Mädchen. Spielsachen in Geschäften waren nach Jungen- und Mädchenspielzeug getrennt und meistens auch durch eindeutige Farbgebung (rosa und blau) gekennzeichnet. Ein Kind nimmt so etwas wahr und denkt wie ich vielleicht: Ich finde das blaue T-Shirt schöner und ich spiele lieber mit dem Auto als mit der Barbie, also wäre ich lieber ein Junge. Es hat einige Zeit und die Lektüre einiger Bücher gedauert, doch heute gehe ich sensibler mit Geschlechterrollen um und gebe acht darauf, kleinen und großen Menschen zu vermitteln: Das Geschlecht sollte keine Rolle dafür spielen, wie du sein möchtest.

Mut – Mitmachen – Material

Der Verein Tadel Verpflichtet e. V. setzt sich für eine tolerante und offene Gesellschaft ein. Nähere Infos unter: https://tadelverpflichtet.de/.

Die Initiative »Kleiner Fünf« kämpft gegen Rechtspopulismus und stellt hilfreiche Materialien bereit, die auch im RU eingesetzt werden können: https://www.kleinerfuenf.de/de/unsere-materialien-fuer-dich

Glaube und Gesellschaft

Im Alter von 16 Jahren – mittlerweile waren die Haare halblang – verbrachte ich ein schulisches Auslandsjahr in Ägypten. Die Erlebnisse in Kairo waren reizüberflutend. Alles war anders. Die Sprache, die sozialen Codes, die Rollenbilder, die Schere zwischen Arm und Reich. Extremes Leid direkt neben glänzendem Luxus zu sehen, verstörte mich. Wieso koexistieren in einer Nachbarschaft solch unterschiedliche Realitäten? Wie kann das gerecht sein?

Den erheblichen Einfluss der Religion (ganz gleich ob bei christlichen oder islamischen ägyptischen Familien) auf die Verhaltensweisen der Menschen und auf das, was ihnen möglich oder unmöglich ist, empfand ich als erdrückend. Ich kam zu der Überzeugung, dass Religion Privatsache sein sollte, und trat nach meiner Rückkehr sogleich aus der Kirche aus mit dem jugendlichen Gedanken: Der Glaube braucht keine institutionalisierte Religion. Gleichzeitig wollte ich mich aber mit dem Verhältnis von Glaube, Staat und Gesellschaft auseinandersetzen, also wählte ich den Leistungskurs Religion. Die Themen Reichtum und Armut, aber auch Glaube und Gesellschaft bewegen mich bis heute und ich versuche, mich in Sensibilität, aber auch kritischer Auseinandersetzung zu üben.

Diskussion und Dialog

Nach einem naturwissenschaftlichen Masterabschluss in Wassermanagement machte ich ein Praktikum in der Entwicklungszusammenarbeit. Gleichzeitig wuchs zusehends eine neue rechtsradikale Partei in Deutschland, der Brexit wurde Wirklichkeit in England und Donald Trump wurde der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. An meinem 25. Geburtstag saß ich in einem Straßencafé in München und kam mit dem Mann neben mir ins Gespräch. Nach einem kurzen, netten Plausch wechselte er das Thema und fiel verbal über Geflüchtete her. Er bezeichnete sie als Parasiten und Bittsteller, er sagte, sie seien Feiglinge und Vergewaltiger. Ich versuchte alles, um ihm Paroli zu bieten, doch es gelang mir nicht. Er machte immer weiter. Wenige Wochen später beendete ich mein Praktikum, lehnte einen Arbeitsvertrag ab und gründete stattdessen mit weiteren Engagierten einen Verein. Wir nannten ihn »Tadel Verpflichtet«, weil wir fanden, wenn man motzt und mosert, muss man auch konstruktive Gegenvorschläge machen. Wir verbrachten über ein Jahr (bis zur Bundestagswahl 2017) damit, Gesprächsleitfäden für Menschen zu entwickeln, die in ähnliche Situationen kommen wie ich damals. Wie reagieren, wenn der Onkel bei der Familienfeier rechtspopulistische Parolen von sich gibt? Wie reagieren, wenn die beste Freundin plötzlich abfällig über Homosexuelle spricht? Wir wurden Aktivist*innen für Demokratie und gegen Rechtspopulismus. Die Initiative »Kleiner Fünf« unseres Vereins gibt es bis heute. Es wurden zwei Bücher und ein Kartenspiel veröffentlicht, es werden Workshops veranstaltet und wir nehmen an Demonstrationen teil.

Politische Bildung im Alltag

Alle Menschen, Orte, Regeln und gesprochenen Sätze rund um Kinder und Jugendliche haben das Potenzial, sie politisch zu prägen. Jede Begegnung kann zu einem Schlüsselerlebnis werden. Häufig erzählen mir Menschen z. B. von einem tollen Lehrer, der ihnen die Augen für ihr Talent geöffnet hat, einer Nachbarin, die zu einem Vorbild wurde, oder auch von Prägungen durch Gewalterfahrungen. Um diese Erlebnisse, die – wie oben erläutert – stets eine politische Dimension haben, einordnen zu können, müssen Kinder und Jugendliche dazu ermutigt und befähigt werden, sie zu reflektieren. Sie sollten Raum für ihre Gefühle und Gedanken haben und lernen, diese in Worte zu fassen. Sieht ein Kind zum Beispiel, wie eine obdachlose Person in der U-Bahn um Geld bittet, so sollte ein Gespräch darüber folgen, was das Kind denkt und fühlt. Fangen wir an, andere wahrzunehmen und divergierende Bedürfnisse, Interessen, aber auch Chancen zu verstehen, so entwickeln sich automatisch politische Gedanken. Zum Beispiel so: Warum gibt es im U-Bahn-Schacht nur eine Treppe und keinen Aufzug? Was ist mit jenen, die im Rollstuhl sitzen oder alt und schwach sind? Wer entscheidet eigentlich darüber, ob es Treppen oder Aufzüge gibt? Wer trägt die Kosten für die Errichtung? Was könnte ich tun, um diesen Ort gerechter zu machen?

Die aktive und bewusste Auseinandersetzung mit politischem Geschehen benötigt Wissen, Zeit und in vielen Fällen auch Geld (z. B. Zeitungsabo, Parteimitgliedschaft). Die demokratische Auseinandersetzung verlangt dazu Fähigkeiten ab wie Geduld, Reflexion, das aufrichtige Interesse am Gegenüber und vor allem Konfliktfähigkeit. Gerade für Kinder und Jugendliche sollte der Zugang zum bewussten und aktiven politischen Selbst so einfach wie möglich gemacht werden. Wir alle können daran mitwirken, indem wir unseren Abgeordneten Briefe schreiben mit konkreten Anliegen, indem wir Vereinen der politischen Bildungsarbeit eine Spende überweisen oder am Abendbrottisch mit Kindern über ihre Wahrnehmung von Gerechtigkeit sprechen.

Wie wäre es wohl, würden Schulen das Ritual pflegen, am Ende jedes Jahres zu fragen: Welches Erlebnis hat dich dieses Jahr besonders bewegt? Was sind deine Gedanken darüber? Allein das Zuhören und Aufnehmen der Geschichten von anderen böte bereits die Möglichkeit der Reflexion.

Alle Bereiche unseres Lebens haben eine politische Dimension. Die Frage lautet: Was machen wir daraus?

Paulina Fröhlich ist Leiterin des Programmbereichs »Zukunft der Demokratie« des Progressiven Zentrums. Dort leitet sie u. a. innovative Dialogformate mit Bürger*innen wie »Europa hört – eine Dialogreise« und Projekte zum souveränen Umgang mit demokratiefeindlichem Populismus im öffentlichen Raum.