Auftakt.

Rainer Oberthür

Was ist die Seele?

Die Menschheitsfrage nach der Seele stellt sich bereits früh im Leben. Wie können wir Antworten versuchen, die zum Weiterfragen motivieren? Verschiedene Zugänge versuchen sowohl dem Suchen nach der Seele in Vergangenheit und Gegenwart als auch dem heutigen naturwissenschaftlichen Wissen auf elementare Weise gerecht zu werden.

Seit über 3000 Jahren stellen Menschen die Frage nach der Seele und finden immer neu ihre Antworten. Dabei ist erstaunlich, dass die Existenz der Seele kaum bestritten wird. Durch alle Zeiten hindurch, in allen Religionen und auch vom atheistischen Standpunkt aus gehen Menschen auf verschiedenste Weise davon aus, dass es in uns etwas gibt, das mit dem Wort ›Seele‹ gut umschrieben ist, ob als Innerlichkeit oder Einzigartigkeit, als Lebensprinzip oder als das Unsterbliche in uns.

Die Seele als Palimpsest

In seiner faszinierenden Kulturgeschichte der Seele begreift Ole Martin Høystad (vgl. den Beitrag im vorliegenden Heft) die Seele als ein »Palimpsest«. So nannte man im Mittelalter die Manuskripte: Auf dem seltenen und kostbaren Pergament wurden die Wörter immer wieder weggewaschen oder abgeschabt und mit neuen überschrieben. Der Mensch formuliert in seiner Gesamtgeschichte immer wieder neue Sprachbilder für die Seele und ›erschafft‹ die Seele somit ständig neu, ohne die alten Bilder zu vergessen und ohne zu meinen, die Seele endgültig erfasst zu haben.

Das Interesse des Menschen am Phänomen der Seele beginnt bereits früh. Schon Kinder – so meine Erfahrung in vielen Gesprächen im Religionsunterricht – fragen begeistert und fasziniert nach der Seele und finden mitunter geniale Antworten: »So was Ähnliches wie das Herz ist die Seele und doch ganz anders.« – »Die Seele ist zart und ist im Blut.« – »In der Seele fließen Angst und Liebe.« – »Die Seele ist eine Sonne im Menschen.« – »Wir selbst sind die Seele.« – »Die Seele ist eine Verbindung zu Gott.« – »Die Seele ist das von Gott in mir.« – »In der Seele ist Gott.« Ich denke, diese Faszination liegt darin begründet, dass die Frage nach der Seele die Kinder in ihrer doppelten Begabung anspricht: Zum einen wollen sie als Realisten die Seele konkret verorten, zum anderen wissen sie als Philosophinnen und Theologen intuitiv, dass es dabei um ein weit größeres Geheimnis geht, das zwar ihre tatsächliche Wirklichkeit und Wahrnehmung bestimmt, aber nicht zu ›begreifen‹ ist.

So entdecken wir das Geheimnis gemeinsam. In der Frage nach der Seele und unseren Antworten zur Seele spiegeln und bündeln sich zahlreiche weitere ›große Fragen‹. Was ist der Mensch? Wie verhalten sich Seele und Körper zueinander? Gibt es im Menschen eine Instanz, die denkt, fühlt und unsere Einzigartigkeit ausmacht? Wo ist sie zu finden? Wie kommt der Mensch in Beziehung zu Gott? Ist das Göttliche in ihm? Gibt es etwas, das den Tod überdauert? Was geschieht damit und mit uns nach dem Leben? Unser Nachdenken über die Seele berührt Grundfragen des Daseins und das Mysterium unserer Existenz.

Auf der Suche nach der Seele

In einer elementaren Geschichte vom sogenannten »Seelensucher« bin ich intensiv und persönlich der Frage nach der Seele nachgegangen. Dabei folge ich konzeptionell der Palimpsest-Metapher vieler Um- und Überschreibungen. Erzählt wird im ersten Teil von einem Menschen, der alles hat, doch nie genug bekam. Erfolg, Geld und Besitz machen ihn nicht glücklich. Er sieht nur auf sich und wird immer mehr ›seelisch‹ krank, obwohl ihm körperlich nichts fehlt. Eine weise Ärztin rät ihm, sein Leben zu retten, indem er der Frage nach der Seele nachgeht. So verschenkt er alles und fragt ein Jahr lang alle, die ihm begegnen, klein und groß, jung und alt, Experten aller Art, nach Worten für die Seele. Seine insgesamt 99 Umschreibungen der Seele retten ihn tatsächlich. Er vertraut sie dem Ich-Erzähler an, dem er am Ende des Jahres begegnet. Dieser breitet im zweiten Teil die »Sammlung des Seelensuchers« aus, begleitet von wunderbaren Bildern von Barbara Nascimbeni (s. Beispiele). Im dritten Teil entfaltet der Ich-Erzähler aus dem Erfahrenen heraus seine »Geschichte der Seele«. Sie beginnt mit dem Urknall und führt letztlich zum beseelten Leben, das nach sich selbst, nach der Seele und nach Gott fragen kann. Dabei kommen die bis dahin gesammelten fragmentarischen Erfahrungen und Erkenntnisse in einen Gesamtzusammenhang. So bilden die Umschreibungen und Illustrationen ein Wort- und Bildermuseum zur Seele, in dem Fragen gestellt, Antworten gesammelt werden und doch das Geheimnis bewahrt bleibt.

Mein eigenes Suchen und Finden von Antworten zur Seele im »Seelensucher« ist auch geprägt durch meine Glaubensüberzeugung, dass wir Menschen nicht aus Zufall auf der Welt sind, dass unsere Seele von Gott erschaffen und geschenkt ist, auch wenn sie durch unsere Eltern ins Leben gerufen und durch das Leben immer neu geformt wird. Dazu gehört auch der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele in einer Ewigkeit jenseits von Zeit und Raum. Unser Nachdenken über die Seele sollte dabei heutige naturwissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen. Hierbei gibt Vito Mancuso (vgl. den Beitrag im vorliegenden Heft) wertvolle Impulse: zum einen bei der Frage der Rolle der Eltern bei der Entstehung der Seele eines Menschen, zum anderen bei der Frage nach dem evolutionären Übergang in eine Phase von Unsterblichkeit.

Angesichts heutigen Wissens stellt sich die Frage: Wie können wir naturwissenschaftlich korrekt vom Glauben an die Unsterblichkeit der Seele sprechen? Mein Versuch, inspiriert durch Vito Mancuso, geht auszugsweise so:

»In dieser 13,8 Milliarden Jahre alten Geschichte gibt es vier große Wunder, entsteht jeweils völlig Neues: vier unerklärliche, geheimnisvolle Übergänge. Am Anfang steht die Entwicklung vom kleinen Punkt zum riesigen Universum. Später folgt der Wechsel von der unbelebten Materie zum vielfältigen Leben. Dann entstehen aus Leben, das einfach nur da ist, immer klügere Lebewesen. Schließlich entwickeln sich Geschöpfe, die sich ihrer selbst bewusst sind, die immer besser Gut und Böse unterscheiden, frei und gerecht sein können, die Verstand und Vernunft, Weisheit und Tiefe, Geist und Seele haben.« (Oberthür 73)

Später greife ich das Bild von den unerklärlichen Übergängen wieder auf:

»Wenn es bisher viermal durch höhere Ordnung wunderbare Übergänge gab, wenn gegen das Gesetz der steigenden Unordnung großartig Neues entstand, ist es keineswegs unvernünftig zu glauben, dass die Seele im Tod nicht stirbt. Dann wäre die Unsterblichkeit der Seele ein fünfter unerklärlicher Übergang: Die Seele des Menschen ist das Ergebnis aller Entwicklung seit dem Urknall. Sie kann die Entstehung von allem begeistert bedenken und bestaunen. Sie kann in sich selbst Gott erfahren, dem sie diese Entwicklung verdankt. Sie kommt nach dem Tod ganz zu sich und so auch wieder zu Gott zurück. Das dürfen wir mit Herz und Verstand und ganzer Seele hoffen und glauben. Ob das alles wahr ist und tatsächlich so sein wird, kann niemand wissen.« (Oberthür 76)

Eine solche Einbeziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und das ausdrückliche Wissen um unser letztliches Nichtwissen sehe ich als Bedingung für die Frag- und Glaubwürdigkeit heutigen religiösen Redens.

Rainer Oberthür ist Dozent für Religionspädagogik am Katechetischen Institut Aachen, Autor und Mitglied im Beirat der Katechetischen Blätter.

Ideen und Material für die Unterrichtsgestaltung finden Sie im Praxisbeitrag »Der Seelensucher im Religionsunterricht«.

Literatur

Høystad, Ole Martin, Die Seele. Eine Kulturgeschichte, Wien/Köln/Weimar 2017.

Mancuso, Vito, Die Seele und ihr Schicksal, München 2013.

Oberthür, Rainer, Der Seelensucher. Eine Geschichte über das große Geheimnis des Menschen, München 2020.

Die verlorene Seele

von OLGA TOKARCZUK und JOANNA CONCEJO (22,00 €)

Schlicht und ergreifend, ähnlich und doch ganz anders, in wenigen Worten und eindrucksvollen Bildern erzählt diese Seelen-Geschichte von einem geschäftigen Mann, der seine Seele verlor, sie aber wiederfindet, indem er einfach still auf sie wartet. Denn die Seelen können mit der ständigen Eile nicht Schritt halten. Ein Plädoyer für die Langsamkeit ohne weitere Versuche, die Seele in ihrem Wesen zu umschreiben, mit dem die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk und die Illustratorin Joanna Concejo auf eigenwillige Weise beeindrucken.
Rainer Oberthür