Auftakt.

Rita Burrichter im Gespräch mit Bärbel Husmann

Soll, darf, muss Religion in der Schule sichtbar sein?

»Schule ist ein Raum des normalen Lebens«, sagt Bärbel Husmann, evangelische Theologin, Lehrerin und stellvertretende Schulleiterin. Von dorther versteht sie ihr Engagement für die Sichtbarkeit von Religion in der Schule und zugleich ihre Skepsis gegenüber dem Begriff der Schulreligion.

Hat Religion in der Schule Platz? Wenn ja, wie kann sie vorkommen? Wie sind religiöse Feiern praktisch umsetzbar? Mit diesen und ähnlichen Fragen sehen sich Religionslehrkräfte und Schulleiter*innen zunehmend konfrontiert. Und je heterogener sich die Schulgemeinschaft darstellt, desto komplexer scheint die Aufgabe, eine religionssensible Schulkultur zu entwickeln. Bärbel Husmann plädiert für eine religiöse Praxis im schulischen Raum, die reflektiert und aufmerksam ist: »Schule ist ein Raum des normalen Lebens, Religion ist ein Bestandteil des normalen Lebens, also muss Religion auch in der Schule sichtbar sein. Aber den Begriff der ›Schulreligion‹, den würde ich nicht benutzen.«

Religion kenntlich machen

Husmanns Zurückhaltung gegenüber dem Begriff ›Schulreligion‹ hat mit der faktischen Situation an den Schulen zu tun, die ein Spiegel des demographischen Wandels und der weitgehenden Veränderung der religiösen Landschaft hierzulande ist. Mit Blick auf die allerorten religiös individualisierten und pluralisierten Schulgemeinschaften – aufseiten der Schüler*innen wie der Lehrer*innen – geht es Bärbel Husmann zunächst ganz unmittelbar um die Selbstverständlichkeit, mit der der eigene Glaube auch im säkularen Kontext zum Ausdruck kommen darf, und um den Respekt, mit dem man den religiösen Ausdrucksformen anderer begegnet. Das ist eine enorme praktische Herausforderung, soll es dabei nicht einfach um die Formulierung wohlfeiler Sätze für’s Schulprogramm gehen, sondern um wirklich gelebtes Schulleben. Dazu braucht es nach ihrer Auskunft nicht sechs verschiedene Meditationsräume für unterschiedliche Religionen, Konfessionen, Weltanschauungen und die Vielzahl ihrer möglichen Abstufungen, wohl aber eine klare Übereinkunft zum Kenntlichwerden des Religiösen. Grundlage einer solchen Übereinkunft ist die Wertschätzung von Differenz. Aus langjähriger Schulpraxis heraus betont Husmann die Bedeutung der Ausbildung von gemeinsamen Werthaltungen und der Einübung in religionssensible Umgangsweisen. Es geht ihr um die Entwicklung und das Praktischwerden einer gemeinsamen Schulkultur im Umgang mit differenten religiösen Bekenntnissen und Praxen.

Eine solche Schulkultur verzichtet gerade nicht auf Kenntlichkeit und Ausdrücklichkeit und darf auch Auseinandersetzung bewirken oder Widerspruch hervorrufen. Sie erzählt mir von einer neu in die Schulgemeinschaft eingetretenen Lehrerin, die auf einem Foto für die schulöffentliche Pinnwand ihre Kreuzkette wegretuschiert hat, weil ihr früherer Schulleiter von ihr verlangt hatte, ohne eine solche Kette in der Schule zu erscheinen. Sie würde damit die Schüler*innen beeinflussen. »Das geht gar nicht!«, sagt Husmann und macht deutlich, dass sich gerade an den Lehrkräften entscheidet, wie und ob das, was Menschen für ihr Leben wichtig ist, was sie als Personen ausmacht, im schulischen Raum so zur Sprache kommen kann, dass es Beziehung und Verständigung ermöglicht. Dabei geht es nicht um formale Zuordnung, nicht um Etikettierung, nicht um Identifizierung von Konfessionen, Rechtsschulen oder Ideologien, sondern um die Möglichkeit zu Kommunikation und Interaktion: Was ist dir wichtig? Was ist mir wichtig? Was zeigst du mir von dir? Was zeige ich dir von mir? Was trägt dich? Was trägt mich? Können wir uns darüber verständigen?

BILDSERIE 1 Die Klassenkerze (von Meysi aus Kl. 3a)

Im Gespräch mit Bärbel Husmann fällt mir auf, wie oft sie von der »kompletten Mischung« der Schulgemeinschaft spricht, wo der religionspädagogische ›Gegenwartssprech‹ eher »Heterogenität« vermerken würde. Darüber denke ich später noch länger nach: Beim Begriff »Heterogenität« habe ich die Einzelperson im Blick, die höchst individuelle Bedürfnislage, die Frage, wie singuläre Verschiedenheit zu ihrem Recht kommt. Die »komplette Mischung« führt mir demgegenüber stärker die Gemeinschaft vor Augen, ihre Vielfalt, aber gerade darin auch ihr Bedürfnis nach Zusammenhalt, nach Einheit. Bärbel Husmann ist aus Gründen der Wertschätzung von Differenz skeptisch gegenüber dem Begriff der Schulreligion: »Da setzt man dann doch wieder ein irgendwie geschlossenes Milieu voraus und konstruiert daraus eine lokale Hybridreligion.« Aber der »kompletten Mischung« wünscht sie eben doch ein einheitsstiftendes Moment, eine gemeinsame Schulkultur, die in geteilten Werthaltungen gerade auch zum Umgang mit religiöser Verschiedenheit und religiöser Vielfalt zum Ausdruck kommt. Ist das dann ›nur‹ das Ethos eines für alle verbindlichen Schulprogramms? Kann es dann überhaupt noch religiöse Praxis geben? Und wie soll die aussehen?

Das Transzendente aufscheinen lassen

Auch die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen religiöser Praxis im Raum der Schule machen sich für Bärbel Husmann konsequent an den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen schulischer Praxis fest. Weil Schule Lebensraum ist, begegnen hier die existenziellen – persönlichen wie gesellschaftlichen – Herausforderungen, die in Freude wie in Leid nach Deutung und Gestaltung verlangen. Jenseits der Frage nach formaler Religionszugehörigkeit und den Graden religiöser oder weltanschaulicher Bindung geht es ihr im schulischen Raum um die Rahmung, ja auch um die Bewältigung dessen, was uns an unsere Grenzen bringt, unser Fassungsvermögen übersteigt, uns unbedingt angeht. Es geht um das Zum-Ausdruck-Bringen dessen, was die Einzelnen, aber auch die Schulgemeinschaft bewegt und berührt, um Anfänge und Abschiede, Erfolg und Scheitern, Arbeit und Freizeit, Freundschaft und Gemeinschaft, Einsamkeit und Konflikt, nicht zuletzt auch um den Umgang mit der Erfahrung des Todes. Ganz grundsätzlich fragt Bärbel Husmann: »Kann man das Transzendente aufscheinen lassen?« Dazu braucht es mehr und anderes als Unterricht und pädagogische Begleitung. Sie plädiert für die Ermöglichung und Gestaltung eines gemeinsamen »Feier-Raums«, im übertragenen Sinn eines Kommunikations- und Begegnungsraums für Freude und Trauer, Sehnsucht und Hoffnung der »kompletten Mischung«.

Wie geht das praktisch? Auf meine Frage antwortet sie ganz pragmatisch: »An einem besonderen Ort, zu einer bestimmten Zeit und mit einer klaren Agenda.« Dann sprechen wir über Lesungen von Texten, über die Formulierung von Wünschen und Gebeten, über die Problematik von Segensformeln und die Entwicklung von Ritualen. Bärbel Husmann macht deutlich, dass es ihr um »Religiöse Feiern für alle« geht, dass diese aber, gerade weil sie für alle sind, den je eigenen Glauben, das je eigene Verstehen nicht einfach »implizit« zum Ausdruck bringen, sondern im wörtlichen Sinn ausdrücklich – »explizit« – sichtbar werden lassen. »Explikation« versteht Husmann als Möglichkeit, deutlich zu machen, von woher ich spreche: als Christ und Christin, Muslimin und Muslim, Andersgläubiger, Nichtgläubige. Zu Lesungen religiöser Texte findet sie Sätze hilfreich, die den Kontext erhellen; zum Beispiel müsse bei biblischen Brief-Texten klar sein, dass das keine ewigen Wahrheiten seien, sondern eine in eine bestimmte Situation hinein und an bestimmte Adressaten gesandte Botschaft. Sie wünscht sich nicht religiös unbenannte Rituale, sondern kenntliche Formen, die ihre Herkunft nicht verschleiern, die vielmehr als persönlicher Background von hier und jetzt Anwesenden sichtbar werden, zum Beispiel bei Gebeten: »Wir möchten zu Beginn/zum Ende unserer Feier ein Gebet sprechen. Alle, die unseren Glauben an den einen Gott teilen, Christen, Muslime, Gläubige und Zweifler können im Stillen mitbeten. Die anderen bitten wir um respektvolles Schweigen.«

Husmann macht deutlich, dass der Rückgriff auf die je eigene Tradition kein Dominanzgebaren ist, sondern mit dem pädagogisch begründeten Anspruch auf Authentizität zu tun hat: »Ich kann als Christin nicht säkulare Rituale entwickeln.« Gerade mit der Aufforderung zur Präsenz (nicht: Präsentation!) der eigenen Standortgebundenheit geht die Verpflichtung zur interreligiösen und interkulturellen Aufmerksamkeit einher. Auch und gerade mit der an alle ausgesprochenen Einladung kann sich ja ungewollte Segregation vollziehen, wenn zum Beispiel rituelle christliche Segenshandlungen mit dem islamischen Segensverständnis kollidieren. Der evangelisch-reformierten Theologin kommt beim Segen die reformierte Tradition entgegen, um den Segen ›nur‹ zu bitten, ihn aber nicht ›anzuwünschen‹. Das Stichwort »Aufmerksamkeit« erscheint mir im Gespräch mit Bärbel Husmann wegweisend. Mehrfach betont sie, wie wichtig Reflexionskompetenz bei »Religiösen Feiern für alle« ist. Aus welcher Perspektive spreche ich? Wie bin ich beteiligt? Gehe ich innerlich mit? Beobachte ich? Begleite ich? Husmann betont, dass Perspektivwechsel und Aufmerksamkeit für die Perspektiven anderer, Bewusstsein für Rollenübernahmen und Repräsentation grundlegend sind für den Erwerb von Selbstkompetenz und dass damit solche Feiern und deren Anforderungsprofil nichts Zusätzliches oder bloßes Beiwerk im schulischen Raum sind, sondern grundständig zu schulischer Bildung und Erziehung gehören.

Die Unterschiede ernst nehmen

Grundbestand schulischer Bildung und Erziehung – mein Stichwort! Ich frage Bärbel Husmann, wie sie eigentlich das Verhältnis von Schulseelsorge und Schulsozialarbeit sieht. Mir ist es ja sehr sympathisch, das diakonische Handeln der Kirchen ohne Rekrutierungsabsichten und sonstige Interessen als religiöse Praxis zu verstehen und habe hier viel vom spezifisch evangelischen Verständnis gelernt. Ich frage sie auch, ob religiöse Praxis und mithin Schulreligion nicht bereits auf der Unterrichtsebene begegnet oder sich ganz beiläufig im Schulalltag manifestiert und erzähle von der Grundschullehrerin, deren kurze Einleitung der Frühstückspause immer mit einem nicht adressierten Dank beginnt, den religiöse Menschen auf Gott beziehen können und nicht religiöse auf Mama, Papa oder die Geschwister, die die Frühstücksbox gerichtet haben. »Ja«, sagt Bärbel Husmann »Hans Magnus Enzensberger ›Empfänger unbekannt‹ – so kann das gehen. Aber das mit der Schulsozialarbeit, ich weiß nicht so recht. Ich würde das nicht alles so vereinnahmen. Wie sehen Sie das denn?« Das ist natürlich eine Fangfrage, weil wir gelegentlich über das katholische und das evangelische Verständnis von Kirchlichkeit im Gespräch sind. Ich rede mich ein bisschen raus, aber Bärbel Husmann bleibt hartnäckig. Ihr ist es wichtig, die Handlungs- und Vollzugsformen zu unterscheiden: Schulsozialarbeit von Tagen religiöser Orientierung, Tage religiöser Orientierung von religiösen Feiern. Nicht zuletzt deshalb plädiert sie bezüglich der Feiern für einen besonderen Ort, der die Öffnung auf Transzendenz, auf das ganz andere befördert: Das kann der Kirchenraum sein, wohl eher nicht die Turnhalle, durchaus aber auch die Aula oder ein Konferenzraum. Die Abgrenzung der Feiern von anderen Handlungsvollzügen, die Kenntlichkeit ihrer Form und die reflektierte Befassung mit ihrer Gestalt sind wichtig, weil »Religiöse Feiern für alle« im Raum von Schule »riskante Liturgien« sind. Ihnen liegt kein festes Formular zugrunde, sie werden nicht einfach von Hauptamtlichen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen durchgeführt, sie haben mit einer »kompletten Mischung« aufseiten der Teilnehmenden zu rechnen und sie vollziehen sich im öffentlichen Raum der Schule. Vorbereitung, Durchführung und Entwicklung bedürfen der besonderen und steten Reflexion.

Dr. Bärbel Husmann ist evangelische Theologin und Herausgeberin eines Lehrwerks für den Religionsunterricht. Sie hat dreißig Jahre lang an verschiedenen Gymnasien in Niedersachsen und NRW als Lehrerin für Chemie und ev. Religion sowie zuletzt auch zehn Jahre als stellvertretende Schulleiterin gearbeitet.

Dr. Rita Burrichter ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Paderborn und Schriftleiterin der Katechetischen Blätter.

Literatur

Husmann, Bärbel/Abesser, Bernd, Religiöse Feiern in der Schule. Theorie und Praxis für religiös heterogene Situationen, Hannover 2021.