Auftakt.

Dominik Blum

Und wir lesen in den ältesten Liedern / Unsere neusten Träume*

Jeder kennt Songs, die einen durchs Leben begleiten und im biografischen Blick wie Meilensteine und Orientierungspunkte erscheinen können. Das Hören (und Singen!) von Musik birgt tiefe individuelle und gemeinschaftliche Erfahrungen, die es auch religionspädagogisch wieder stärker zu nutzen gilt. Ein Plädoyer.

Lingen, Emslandhalle. Mit meinem Sohn bin ich da, Reihe 15, ziemlich weit vorne. BAP spielt, ›meine‹ Rockband. Die erste Begegnung mit ihr hatte ich, da war ich 14 Jahre alt, Anfang der 1980er-Jahre. Das Handballtraining fiel aus, weil die miefige Schulturnhalle in der Kleinstadt am Eifelrand für ein Konzert der Kölschrocker umgebaut worden war. Ich habe mich sehr geärgert damals, mit der Sporttasche unterm Arm. Vill passiert sickher, denke ich und schaue aus dem Augenwinkel auf meinen Jungen, der inzwischen schon einen halben Kopf größer ist als ich. Dann spielt BAP Nix wie bessher, den Song über Erlebnisse und Erfahrungen, nach denen alles anders und nichts wie bisher ist: »Su deef hatt noch jar nix berührt«, bekennt Wolfgang Niedecken. Am Ende des Stücks dreht sich der Mann in der Reihe vor uns um, schaut meinem Sohn tief in die Augen und sagt mitten im Emsland in reinstem Kölsch: »Dat sin keine Leeder, Jung, dat sin Lebensjeschichten.«

Landmarks for People

Der britische Musiker Mark Knopfler, von 1977 bis Anfang der 1990er-Jahre Leadsänger und Songwriter der Dire Straits, spricht während eines Konzertes 2009 von Musik, die tatsächlich Teil der Lebensgeschichte wird. Eines Abends, so erzählt Knopfler, kam er von einem Konzert nach Hause und war wieder einmal unzufrieden mit der Performance von Sultans of Swing und der Reaktion des Publikums darauf. »Maybe I should stop playing it«, grübelt er vor sich hin. Er kommt mit seiner Frau Kitty ins Gespräch, die ihn fragt, ob er den Song so gespielt habe wie immer. Nein, habe er geantwortet, man könne ja nicht immer den gleichen Zirkus machen, er wolle die alten Titel auch einmal anders spielen. »Well, that’s the problem«, lernt der Songwriter von seiner Frau, die ihm einschärft, die Stücke so zu spielen, wie die Leute sie kennen und hören wollen. »They’re landmarks for people. The songs are milestones for people in their lives. And they use them to live with.«

Ja, so ist es. Es gibt Musikstücke, die sind Meilensteine, Orientierungspunkte, ja tatsächlich Wahrzeichen in der Landschaft meines Lebens. Ich brauche sie zum Leben und ich gebrauche sie, um überhaupt leben zu können. Hunderte, Tausende Male habe ich sie gehört, immer gleich, immer anders, in verschiedenen Versionen, in unterschiedlichen Stimmungen, habe von der Musik gelebt, von den Texten oder von beiden zusammen. Vielleicht kann man auch von Bildern oder Romanen auf diese Weise leben, ich lebe von der Musik. Sie berührt mich auf verschiedenen Ebenen, mit Melodie und Rhythmus und ebenso mit Erzählungen und Reflexionen, die mir meine eigenen und andere, fremde Welten erschließen.

In einem kleinen Buch von Stefan Knobloch über das uneindeutige Glauben heute finde ich die Rezeption der Ideen des britischen Philosophen Tim Crane zum ›Gegenstand‹ von Religion (Knobloch 20–32). Religion, davon ist Crane überzeugt, hat die Funktion, eine unsichtbare Ordnung zur Verfügung zu stellen, die dem Menschen ermöglicht, der Welt und dem Leben Sinn abzugewinnen. Ist das nicht sehr nah an dem, was Musik tut, wenn sie Landmarks und Milestones bietet, die zum Leben helfen? Der Glaube – und ich ergänze mit Mark Knopfler: auch die Musik – greift »nach einer bedeutungstragenden Wirklichkeit aus. Die Welt wird nicht zum bedeutungslosen, sondern zum bedeutungsvollen Ort« (Knobloch 23).

Wer kann noch Paränese oder Paradies?

Nicht, dass ich dahin zurückwollte, den Leuten mit Theologie und Verkündigung ständig ins Gewissen zu reden. Das haben wir lange genug getan. Und selbstverständlich ist religiöse Erziehung und Bildung mehr und etwas anderes als Moralpädagogik. Wenn ich aber sehe, was sich tut in unserem Land und der Welt, wünschte ich mir manchmal, es gäbe noch jemanden, der aus der Perspektive des Evangeliums dagegenhält, dagegen predigt, dagegen ermahnt – und dem mehr Menschen zuhören als eine müde Schulklasse in der dritten Stunde oder eine Handvoll Senioren während der Predigt in der Frühmesse.

Wer kann noch so ermahnen, dass die Menschen aufhorchen? Dass sie sich anfragen lassen, vielleicht sogar umkehren? Die Musik, glaube ich. Im November 2023, kaum mehr als einen Monat nach Beginn des Krieges im Heiligen Land, hörte ich The Armed Man: A Mess For Peace von Karl Jenkins. Mehr als alle Bilder im Fernsehen, mehr als alle Reportagen aus Gaza traf mich die Musik ins Mark, die ihren Ausgang nimmt von dem französischen Chanson L’homme armé aus dem 15. Jahrhundert. »Den Mann in Waffen muss man fürchten«, lautet der Text aus der Zeit des 100-jährigen Krieges (1337 bis 1453). Deshalb, so der kriegstreiberische Aufruf am Anfang: »On a fait partout crier / Que chascun se viengne armer / D’un haubregon de fer.« (Überall hat man ausrufen lassen, / Dass jeder sich bewaffnen solle / Mit einem eisernen Kettenpanzer.) Jenkins Stück, entstanden unter dem Eindruck des Kosovo-Krieges 1998/1999 und uraufgeführt 2000, kontrastiert Musikstile, Poesie und heilige Schriften aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Am Ende dann siegt bei Jenkins nicht Rudyard Kiplings unerträgliche Hymn before Action aus dem Gedichtzyklus The Seven Seas (1896), sondern die Überzeugung: »Better is peace than always war / And better is peace than evermore war.« Jenkins Mess For Peace habe ich als musikalische Umkehrpredigt gehört, als das Plädoyer für Pazifismus, das sich kaum noch jemand zu halten traut.

Und umgekehrt: Wann haben Sie zuletzt versucht, Jugendlichen zu erklären, was denn das Paradies sein könnte (das Königreich der Himmel, das Reich Gottes, die Ewigkeit, das, was noch kommt, wie auch immer Sie es nennen wollen …)? Und zwar so, dass die Firmbewerberinnen oder Reli-Grundkurs-Abdecker ein solches Thema überhaupt als besprechbar akzeptieren und nicht einfach ohne jede Reaktion über sich ergehen lassen. Vom Paradies erzählen so unendlich viele Pop-, Punk- und Rocksongs, die Zahl geht, ganz passend zum Thema, gegen unendlich. Nur zwei ganz aktuelle Beispiele: Paula Carolina ist Offiziell glücklich, hat ihr Lehramtsstudium abgebrochen und macht jetzt Musik. Und sie ist überzeugt: Es zieht im Paradies (2023). Das ist ironisch und frech, irgendwie ehrlich und musikalisch ziemlich 80er im Stil von Geier Sturzflug. »Und Freddy und die Queen sing’: Who wants to live forever? Ich nicht.« Da kann ich mit den Firmlingen schon mal dran anknüpfen. Viel ernsthafter geht es zu in Axel Bosses Song Das Paradies (2020). Die verschiedenen Versionen des Titels verbuchen auf Spotify weit mehr als drei Millionen Aufrufe. Seine Vorstellung ist gar nicht weit weg von Galater 3,28 und dem, was Jugendliche meiner Erfahrung nach auch für paradiesisch halten: »Ich sah LGBTQs / Rabbi und Imam / Priester und Freaks / Zusammen grillen aufm Rasen / Kein arm, kein reich / Mann, Frau, Geld gleich / Auf dem Planet, der einsam um die Sonne kreist // Da war’s ideal, weil einfach niemand verloren, kaputt oder einsam war / Da war’s genial, weil einfach niemand ein Arschloch war.« Hierüber und über das Ende von Depression und Bodyshaming als Anfang vom Paradies nachzudenken, würde sich schon lohnen.

Bildserie 1

Doppelt beten

»Qui bene cantat bis orat.« Wer gut singt, betet doppelt. Der Satz, bei dem leider das ›bene‹ oft unterschlagen wird, stammt wahrscheinlich von Augustinus von Hippo. Aber was soll diese viel zitierte Aussage bedeuten? Ist singendes Beten besser als gesprochenes? Warum? Ist es wertvoller, geht es mehr zu Herzen? Steigt Gesang schneller auf zum Himmel als Gespräch? Oder bezieht sich die Verdopplung ›nur‹ auf die Wirkung beim Beter und der Sängerin? Ich kann es nicht theoretisch erklären. Aber ich will versuchen, es anschaulich und hörbar zu machen. Zwar nicht direkt an einem Gebet, aber an einer Zeitgemäßen Ansprache.

Mascha Kaléko hat in dem kleinen Band »Verse für Zeitgenossen« (1945) eine »Zeitgemäße Ansprache« gehalten. Die ist leider so ungeheuer aktuell, dass es traurig macht – und ich wünschte, es wäre heute eine unzeitgemäße Ansprache. Hier im Text zitiere ich nur drei der sieben Strophen, die ersten beiden und die letzte (Kaléko 182):

Wie kommt es nur, dass wir noch lachen,
Dass uns noch freuen Brot und Wein,
Dass wir die Nächte nicht durchwachen,
Verfolgt von tausend Hilfeschrein.

Habt ihr die Zeitung nicht gelesen,
Saht ihr des Grauens Abbild nicht?
Wer kann, als wäre nichts gewesen,
In Frieden nachgehn seiner Pflicht?

Und nur der Toren Herz wird weise:
Sieh, auch der große Mensch ist klein.
Ihr lauten Lärmer, leise, leise,
Und lasst uns sehr bescheiden sein.

Die Berliner Liedermacherin Dota Kehr hat sich in den letzten Jahren um das lyrische Werk von Mascha Kaléko sehr verdient gemacht und viele – auch unbekannte – Gedichte vertont. Im Herbst 2023, mitten hinein in meine Hilflosigkeit im Kriegswinter, veröffentlichte sie zusammen mit Sarah Lesch eine Liedversion von Zeitgemäße Ansprache. Lesen Sie, hören Sie selbst und schauen Sie das Video, dann wissen Sie, warum eine gut gesungene Ansprache doppelt eindringlich ist – und vielleicht auch ein ebensolches Gebet.

Noch eine kurze Ergänzung, die zeigt, dass es auch umgekehrt geht: Wer Musik hört, kann anschließend doppelt ergreifend beten. Im Rahmen eines Seminars an einer Hochschule für Soziale Arbeit stellte uns kürzlich ein junger Sozialarbeiter den jüdischen US-amerikanischen Musiker Matisyahu und seinen Titel Iwill be light vor. Ausdrücklich in der Tradition des chassidischen Judentums stehend besingt Matisyahu zwischen Rock, Hip-Hop und Reggae die Fähigkeit der Seele, Licht zu sein in der Welt: »Es ist ein winziger Moment in der Zeit / Für das Leben zu leuchten, zu leuchten / Die Dunkelheit wegzubrennen / Ich werde Licht sein« (eigene Übersetzung). Jetzt wolle er uns einen Segen geben, betont der junge Mann zum Schluss, und betet für uns: »Für den heutigen Tag und die kommende Zeit wünsche ich uns, dass der gerechte Gott uns Kraft gibt, für das Leben zu scheinen. Licht für andere, für meinen Nächsten zu sein. Und ich wünsche uns, dass wir uns die Zeit nehmen, um dankbar zu sein. Für all jene Menschen und Momente, welche uns Licht gewesen sind.« Und tatsächlich antwortet die ganze Seminargruppe wie aus einem Mund: »Amen.«

Fan(t)um und Reliquien

Zum Schluss noch einmal zurück zu Mark Knopfler. Der Songwriter hat im Januar 2024 vom Auktionshaus Christie’s in London etwa 120 seiner Gitarren versteigern lassen. Die Auktion erzielte mehr als 10 Millionen Euro, von denen Knopfler ein Viertel an Stiftungen für wohltätige Zwecke weitergeben wird. Das Prunkstück der Sammlung, eine Gibson Les Paul Standard von 1959, erreichte mit umgerechnet etwa 813.000 Euro den Höchstpreis. In den zahlreichen Presseberichten zu der Auktion war zu lesen, einige Gitarren hätten an ihrer Rückseite abgeschabte Stellen, nämlich dort, wo das Instrument am Gürtel von Knopfler gescheuert habe. Über dieses »kuriose Phänomen der Devotionalien-Auktion« schrieb die Süddeutsche Zeitung: »Der Vorgang ist beileibe nicht neu, aber weil den Pop womöglich noch etwas mehr als die Malerei oder die Werke von Bildhauern das Irrationale umweht, die immer leicht hysterische Form von Fantum, ist er doch oft von großer Aufregung begleitet.« Beim Lesen blieb ich – gefangen in meiner theologisch-religionspädagogischen Verständnis-Blase – an dem Wort ›Fantum‹ hängen. Ich dachte an Karl Rahner und sein Plädoyer, die vermeintlich unverzichtbare Unterscheidung von Fanum und Profanum, von Heiligem und Profanem, aufzulösen. Und wunderte mich über das überflüssige ›t‹ in Fantum, das doch der Schlussredaktion einer so renommierten Zeitung hätte auffallen müssen …

Vielleicht ist es also letztlich das, was Religion und Musik verbindet und in Beziehung setzt: die Verbindung von heilig und profan, von fascinosum und tremendum, und die Leidenschaft ihrer Fans, die religiös und musikalisch sind.

Dominik Blum ist Leiter der katholischen Pfarreiengemeinschaft im Artland im Bistum Osnabrück. Er ist Mitglied im Beirat der Katechetischen Blätter.

Zum Hören und Lesen

* Der Titel des Beitrags stammt aus dem Song Musik von Pohlmann. Eine Playlist mit den Titeln, die in diesem Beitrag erwähnt werden, findet sich auf Spotify unter dem Profil dominikblum und dem Titel KatBl-03/2024MusikReligion. Die kölschen Texte und die hochdeutschen Übersetzungen der BAP-Titel stehen unter https://www.bap.de/songtexte/ zur Verfügung.

Mark Knopfler, Sultans Of Swing (An Evening With Mark Knopfler, 2009): https://www.youtube.com/watch?v=leZ4T8kt-1o&t=5s

Stefan Knobloch, Uneindeutig glauben. Von der Vielfalt der christlichen Botschaft, Ostfildern 2022.

Mascha Kaléko, Zeitgemäße Ansprache. In: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band 1, München 22013, 182.

Dota Kehr, Sarah Lesch, Zeitgemäße Ansprache: https://www.youtube.com/watch?v=GUzC84CmeXM

Nix for free. Mark Knopfler versteigert seine Gitarren, und bei Christie’s brechen die Server zusammen: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/mark-knopfler-gitarren-versteigerung-christie-s-e071000/ (Bezahlschranke, aufgerufen am 7.2.2024)